Ikarus

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Frau Lehmann musste zu uns nach Hause kommen, weil ich mich weigerte, ins Krankenhaus zu gehen. Eigentlich wollte ich nicht mit ihr reden, aber so liess es sich nicht verhindern.

Sie brachte Kekse mit, als würde das etwas ändern, und hatte schon ihr antrainiertes Psychologen-Lächeln aufgesetzt, bevor überhaupt irgendjemand zu sprechen begann. Entsprechend setzte ich mich ihr mit trotzig vor der Brust verschränkten Armen entgegen, die glasigen Augen auf den Tisch gerichtet.

Die alte Frau liess es sich nicht anmerken, aber ich wusste, dass sie besorgt war. Mama hatte sie herbestellt, damit sie mich wieder zur Vernunft brachte. Mich wieder dazu brachte, zu essen. Wieder zu leben und nicht vor mich hin zu vegetieren. Und das fiel eigentlich nicht in ihren Aufgabenbereich.

Ihr Job war es, Leuten mit chronischen Schmerzen zu helfen, im Alltag besser zurechtzukommen. Nicht einem jungen Mädchen ohne Lebenswillen genau diesen wieder zurückzugeben. Denn sie wusste genauso gut wie ich, dass sie das nicht konnte. Mit anderen Worten: Frau Lehmann war ratlos und sie war umsonst hier.

„Und, wie fühlen wir uns heute?", eröffnete sie das Gespräch. Meine Mutter sass neben mir und starrte auf ihre ineinander verschränkten Hände. In der Küche stand Opa und wusch ein Glas ab.

Opa war ein grosser, hünenhafter Mann mit O-Beinen vom langjährigen Reiten, der nicht viel sprach und sich lieber mit Pferden abgab als mit Menschen. Die Ehe meiner Grosseltern war mehrere Male fast daran gescheitert.

Frau Lehmann räusperte sich und riss mich damit zurück in die Realität. „Ich habe gefragt, wie es dir geht", wiederholte sie, nachdem ich sie verwirrt angesehen hatte. Ich zuckte mit den Schultern und brummte dann: „Also das hat gerade wehgetan."

Seufzend schrieb Frau Lehmann sich etwas in ihrer Schnörkelschrift auf. Dann rieb sie sich die Stirn uns versuchte, mir in die Augen zu schauen. „Hör zu, Joelle, du musst mitarbeiten, wenn das was werden soll. Du isst nichts, du hängst nur zu Hause rum..."

Trotzig schob ich mein Kinn vor. „Leben Sie mal normal, wenn sie solche Schmerzen haben wie ich", murmelte ich spöttisch. Frau Lehmann zog mitfühlend die Augenbrauen zusammen. Ihre Hand klopfte mit dem Stift auf die Tischplatte, ihr Blick fixierte mich und liess mich nicht mehr los.

Lautstark atmete ich aus und meinte: „Also gut, ich mach ja." Ich dachte nach, suchte nach etwas, das sie zufrieden stimmen würde. Irgendein Vergleich. Tatsächlich kam mir etwas in den Sinn. "Ich fühle mich wie Ikarus. Dieser Junge aus der griechischen Mythologie, der zu nahe an die Sonne geflogen ist und jetzt ins Meer runterstürzt. Haben Sie einen Rettungsring für mich oder haben Sie keinen?"


Ich wusste schon beim Aufsteigen, dass dieser Ausritt nicht mit schönem Wetter enden würde. Am Horizont waren schon dunkelgraue Wolken erkennbar, aber Andrea hatte gesagt, dass es noch halten würde, bis wir wieder zurück waren. Weit gefehlt. Die Wolken waren über uns, als wir gerade den Wald betraten und es begann zu schütten, als wir einen Drittel der Strecke hinter uns hatten.

„Danke vielmals, Andrea! Hast du nicht gesagt, das Wetter würde halten?", rief ich zu ihr nach vorne. Sie zeigte mir den Vogel.

Eine Böe erfasste Tobys Mähne und wirbelte die klatschnassen Strähnen umher. Der Tinker prustete genervt und zockelte schneller voran. Er kannte diese Route, er wusste, dass wir noch lange nicht zu Hause wären. So ein Kack.

Der Wind, der von Minute zu Minute stärker wurde, wehte Bindfäden aus Wasser durch die Luft, die Tropfen prasselten mir nur so ins Gesicht. Je weiter wir kamen, desto mehr nahm auch mein Unbehagen zu. Es war riskant, bei diesem Hundewetter im Wald rumzureiten. Die Pferde schienen beide nervös zu sein und wenn es begann, Äste zu regnen, würden uns entweder die oder die durchgehenden Gäule umbringen.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWhere stories live. Discover now