Ehe ich es mir versah

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In den nächsten zwei Wochen war die Hölle los. Ludger wurde von Training zu Training nervöser, obwohl wir Junioren und die Pferde augenmerklich langsam zueinanderfanden. Alessia, welche seit unserem Aufeinandertreffen im Wald merkwürdig beschwingt wirkte, hatte sich entschlossen, das Risiko einzugehen und mit Vendetta am Herford L-Springen teilzunehmen. Charlotte wurden abgerundete Sporen und eine Springgerte für Princess in die Hand gedrückt, damit sie die Scheckstute besser in die Gänge brachte. Und ich brachte es endlich zustande, Neige in einem angemessenen Tempo über die Hindernisse zu führen.

Nur Martin schien immer noch mit Campario zu kämpfen, denn der Dunkelfuchs wollte partout nicht aufhören, alle farbigen oder besonders aufgestellten Hindernisse anzusehen, als wären sie Monster. Darüber hinwegspringen wollte er schon gar nicht. Das obwohl Martin schon über zwei Jahre lang der Besitzer des Pferdes war. Ich hatte den Eindruck, dass es eigentlich er war, der den Wallach zu beunruhigte. Dass eigentlich er Angst hatte, nicht Campario.

Linda kam einige Male vorbei und übernahm stets das Training in ihrem üblichen Militärton, aber auf den Zwischenfall kam sie nicht mehr zu sprechen, worüber ich ganz froh war.

Zidane konnte ich, wie ich befürchtet hatte, nur noch nebenbei auf kleine Ausritte mitnehmen oder nach dem eigentlichen Training im Viereck reiten. Er machte Fortschritte, gewöhnte sich wieder an die Arbeit am Sprung, aber von dem Niveau, das ich mit Neige bereits erreicht hatte, waren wir noch weit entfernt. Ich wollte ihm einfach noch keine Hindernisse über A* zumuten und Ludger stimmte mir da nur zu. Zidane sollte sich gut erholen, sowohl von seiner Verletzung, als auch von dem Schock, gestürzt zu sein. Ich merkte selbst jetzt, Wochen nach dem Unfall beim Zeitspringen, immer noch, wie er sich bei jedem Hindernis etwas verkrampfte. Er war übervorsichtig und verweigerte mir mehr als einmal.

Nicht so Neige. Wie Ludger mir prophezeit hatte, verweigerte sie nie. Egal, wie unpassend die Distanz war, sie nahm, was sie kriegen konnte und sprang. Wenn ich mit ihr die Übungsparcours ritt, bewegten wir uns immer auf einem schmalen Grat zwischen mutig und riskant. Auf welche Seite es in Herford kippen würde, wusste ich noch nicht. Aber die anfänglichen Schwierigkeiten – ihre Grösse, ihre Angehensweise ans Hindernis – waren grösstenteils überwunden.

Levin hielt, was er versprochen hatte, und sagte niemandem auch nur ein Wort. Am Sonntag, eine Woche nach unserer Abmachung, kam er pünktlich um drei Uhr zum vereinbarten Treffpunkt an der Kreuzung vom Lager Damm und dem Brachtesendeweg, die Ausrüstung in einer Gemüsekiste. Seine Miene war mehr als feindselig und er sagte kein Wort, als ich und Alessia ihn zu Borromeos Versteck führten, aber er sah sich den schwarzen Wallach genau und sorgfältig an.

„Ja, ich denk' das Beste isses, wenn wir ihm die Eisen abnehmen. Er steht hier auf weichem Untergrund, da braucht er die nicht", beurteilte er. Borromeo schien Gefallen an dem schweigsamen jungen Mann zu finden, denn als dieser begann, die Nägel aus seinen Hufen zu ziehen, nestelte er ihm die ganze Zeit über brummelnd am Saum des T-Shirts rum und machte einen seelenruhigen Eindruck.

„Der hat aber schon ganz schön lange Arthrose, kuck' dir mal die Beine an!", bemerkte Levin, nachdem er alle Hufeisen entfernt hatte und deutete auf die verbogenen Knie- und Fesselgelenke des Rappen. Jetzt im Tageslicht war es ein noch unheimlicherer Anblick.

Hatte man ihn vielleicht sogar noch mit kaputten Vorderbeinen weiterspringen lassen? Der Gedanke daran liess mich schaudern. Wie konnte man einem Pferd so etwas antun? Es kaputtreiten, bis es nicht mehr laufen konnte?

Kopfschüttelnd tätschelte ich Borromeos Hals und reichte ihm einen mitgebrachten Apfel. Mit selig geschlossenen Augen frass er ihn, wobei er ihn zweimal verlor. Ich lachte und fuhr ihm über die ausgefranste Mähne. Am Körper trug er noch die gestohlene Decke, die Alessia ihm für die Nacht angezogen hatte, was die knochige Hüfte und den hervorstechenden Widerrist verdeckte. Dieses Pferd war, im Vergleich zu dem, was es früher einmal gewesen war, in wirklich schlechter Verfassung. Das konnte nicht nur von seinen wenigen Tagen hier im Wald stammen. Dante Pignatelli musste ihn vernachlässigt haben.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWhere stories live. Discover now