Ein unfassbares Wunder

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Am Montag war ich in der Schule wieder topfit. Die Krücke konnte zu Hause bleiben und im Unterricht musste ich nicht mehr mit dem Kopf auf der Tischplatte die Lektionen zu Tode schlagen.
Alma war sichtlich erfreut darüber, dass es mir wieder besser ging und die Drei im Französischaufsatz, den ich wegen meinem schlechten Zustand letzte Woche verhauen hatte, nahm ich mit einem Schulterzucken entgegen.
Ich wusste nicht einmal genau, woran es lag. Vielleicht daran, dass Sereina nie wieder die LB Stables von innen sehen würde - das verlieh mir eine gewisse Genugtuung. Vielleicht daran, wie Ludger mich gelobt hatte. Oder vielleicht einfach nur daran, dass der Frühling endlich überall im Münsterland angekommen zu sein schien.
Bei der Fahrt zur Schule hatte ich keinen einzigen kahlen Baum mehr gesehen und überall, auf den Randstreifen, in den Gärten, auf den Wiesen, brachen die Blumen aus der Erde und verliehen der Welt eine liebliche Aura. Eine Aura, die zu flüstern schien, dass sich jetzt alles zum Besseren wandte. Die Lehrer öffneten die Fenster der Klassenzimmer weit, um die erstmals angenehm warme Luft, die nach Osterglocken, Tau und Brezeln von der Bäckerei nebenan roch, hineinzulassen und die Schüler tanzten in den Gängen herum.
Ja, es schrie überall nach Frühling. Ausser in Frau Thorstens Matheunterricht. Dort schrie niemand. Aber das war mir auch ganz recht, denn ich kam im momentanen Thema so gut nach wie noch nie zuvor und machte eifrig mit. Maximilian warf mir während der gesamten Lektion nur finstere Blicke zu, weil er plötzlich seine Unterrichtsnote bedroht sah.
In der Mittagspause traf ich mich mit Charlotte und Alma. Die beiden hatten sich erst ein paar Mal gesehen, verstanden sich aber recht gut, denn beide redeten gern und viel.
Während dem wir alle den ekligen Kartoffelstock der Kantine in uns hineinschaufelten, musste ich in allen Einzelheiten erzählen, wie ich Sereina Pignatelli die Chance auf einen Trainingsplatz vermasselt hatte. Alma lachte sich krumm und Charlotte zeigte sich erzürnt. Erzürnt, dass man jemanden wie Sereina überhaupt hatte starten lassen.
„Das geht doch nicht! Die hat bestimmt gemerkt, dass das Pferd lahm ging!", wütete das blonde Mädchen. Sie kannte Sereina von Springturnieren und meinte, dass sie ihr gänzlich unsympathisch war. Noch unsympathischer als Paulina.
Da musste ich ihr Recht geben. Paulina war zwar eine hohle Schnepfe, aber Sereina war bösartig und intrigant. Genau die Art von Person, die man nicht auf einem jungen Pferd sehen wollte.
„Ich habe zwar keine Ahnung, ob man als Reiter überhaupt darüber lachen kann, aber ich finde es lustig. No hate, Leute, no hate!", gluckste Alma, wobei ihre Hamsterbacken lustige Grübchen formten. Sie war etwas zu dick und etwas zu klein, um bei den oberflächlichen Jungs meiner Jahrgangsstufe eine Chance zu haben und bei den noch oberflächlicheren Mädchen als cool zu gelten. Dass sie der witzigste und treuste Mensch auf Erden war, wurde dabei ausser Acht gelassen. Auch wenn ich es ihr gegenüber gemein fand, war ich jedoch fast ein wenig froh, dass ich Alma so für mich alleine hatte.
„Wenn alle realisieren würden, wie cool du bist, dann hättest du doch gar keine Zeit mehr für mich!", sagte ich ihr immer, wenn sie gerade wieder einen dummen Spruch an den Kopf geworfen bekommen hatte. „Ach was, du bist die mit dem coolsten Hobby auf Erden!", gab sie dann immer zurück. Dann wussten wir, dass wir immer einander haben würden und nie ganz alleine wären.
Irgendwie passten wir zueinander, so unterschiedlich wir auch waren. Zwei taffe Aussenseiter, von deren Coolness die Welt nichts mitbekam. Innerlich musste ich lachen.
„Jetzt ist die sicher noch aggressiver bei den Turnieren, als sie es ohnehin schon ist!", murrte Charlotte und steckte sich einen Rübenschnitz in den Mund. Sie hatte die Hälfte ihres Kartoffelstocks liegen gelassen und zum Tellerrand geschoben, wo man ihm beinahe beim kaltwerden und erstarren zusehen konnte. Mit jeder Sekunde sah er weniger essbar aus.
„Iss das, solange du noch mit der Gabel Stücke davon abtrennen kannst!", nuschelte Alma hinter ihrer Hand hervor, weil sie gerade selbst kaute. Charlotte schüttelte angewidert den Kopf. „Ganz sicher nicht! Das rühre ich nicht mehr an!"
Lachend griff ich nach meinem Handy um zu sehen, ob Mama mir eine Nachricht hinterlassen hatte. Manchmal wusste sie am Mittag schon, dass sie länger arbeiten musste, dann konnte ich mich besser arrangieren. Es war keine Nachricht eingetroffen. Stattdessen sah ich, dass ich eine Email bekommen hatte.
Stirnrunzelnd klickte ich darauf und sah, dass sie von den Ludger Beerbaum Stables kam. In meinen Händen begann es zu kribbeln. Weshalb würden die mir schreiben? Hatte ich was da vergessen? Oder hatte Philipp Weishaupt sich etwa dazu entschlossen, mich doch zu verklagen, weil ich Zidane beim ersten Vorreiten hatte stehenlassen? Ich begann, sie zu lesen.

Hallo Joelle
Ich habe nochmal über all das nachgedacht, was am Samstag passiert ist. Dein Einsatz für Zidane hat mich schwer beeindruckt und ich hätte nicht erwartet, von einer Sechzehnjährigen so viel Verständnis und Feingefühl für ein Pferd vermittelt zu bekommen. Sogar Philipp Weishaupt hat mir im Nachhinein bestätigt, dass ihm das Lahmen am Anfang nicht aufgefallen war, und er hat wirklich ein gutes Auge für solche Sachen. Daraufhin bin ich nochmal die Notizen zu deinem Ritt durchgegangen und konnte nichts finden, was dich als Springreiterin in irgendeiner Weise ausschliessen würde. Hier und da ein paar Kleinigkeiten, aber auch Philipp hat erkannt, dass du mit genug Training Potential hättest. Ich habe dich nicht zum zweiten Vorreiten eingeladen, weil ich Prioritäten setzen musste für Reiter, die dort besser waren als du. Wegen den eher mittelmässigen Leistungen letzten Samstag und deinem Einsatz, den ich beinahe schon als heroisch zu benennen wage, bin ich zum Schluss gekommen, dass du den Reitern, die ich vorgezogen habe, in keiner Weise unterlegen bist. Deshalb habe ich mich sehr dafür eingesetzt, dir den Trainingsplatz zukommen zu lassen, den eigentlich Sereina bis zu ihrem Auftritt so gut wie in der Tasche gehabt hatte. Ich freue mich, dir mitteilen zu dürfen, dass du offiziell Teil der Juniorengruppe bist und erwarte aber, dass du dich als entsprechend ehrgeizig erweist! Am Samstag findet ein kleines M*-Springen in Laggenbeck statt, zu dem ich alle vier neuen Junioren in die Zuschauerloge einlade. An diesem Springen werden grosse Teile unserer zukünftigen Konkurrenz teilnehmen, weshalb ich keine Abwesenheiten dulde!
Mit freundlichen Grüssen, Ludger Beerbaum

Atemlos las ich zu Ende und legte dann das Handy auf den Tisch. Für einige Sekunden war in mir absolute Leere. Ich fühlte nichts, war nicht in der Lage, irgendetwas zu sagen, zu hören, zu sehen, zu spüren, zu tun. Dann ging dieser Moment im ohrenbetäubenden Geräusch meines Freudenschreis unter, den ich nicht länger zurückhalten konnte.
Charlotte hatte zuerst kaum glauben können, was ich ihr erzählte, war dann jedoch, als ich ihr die Email gezeigt hatte, in mein Gejubel miteingestiegen.
Die ganze Kantine hatte uns schlussendlich mit verdutzten Blicken angeschaut, als auch Charlotte ihre Mails checkte, sah, dass sie ebenfalls einen der vier Trainingsplätze ergattert hatte und mit mir johlend um unseren Tisch tanzte.
Alma war es etwas peinlich gewesen und sie hatte uns dann schnell wieder auf unsere Plätze gedrückt, was uns nicht davon abgehalten hatte, weiter zu jubeln und zu strahlen wie Honigkuchenpferde.
Während den letzten Nachmittagsstunden baute sich in mir so viel Energie auf, bedingt durch die Glücksgefühle, die ununterbrochen wie in einem Geysir in mir hochstiegen, dass ich nach Unterrichtsende wie eine Wilde aus dem Klassenzimmer spurtete, den Gang entlang, die Treppen hinunter, durch die Tür und über den Schulhof rannte, bis zum Auto meiner Mutter. Diese sah mich völlig verwirrt an und begriff nicht, was ich vor mich hin brabbelte, bis ich ihr zum dritten Mal sagte, dass ich nun offiziell in den LB Stables Springreiten trainieren würde. Ich konnte es selbst kaum glauben, es erschien mir wie ein Wunder. Ein unfassbares Wunder.

Keep Dreaming - Ich werde reitenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt