Ich kann reiten

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Am Freitag kamen meine Eltern mit zu Frau Lehmann ins Krankenhaus für eine Lagebesprechung. Mit dabei war diesmal, wie bei allen Lagebesprechungen, auch der Neurologe Dr. Anschel, welcher mich bereits durch einen sehr langwierigen Prozess begleitet hatte.
Meine Mutter schien ausserordentlich guter Laune zu sein und hatte ihre aschblonden Haare zu einem dynamischen Pferdeschwanz zusammengebunden, wodurch sie glatt fünf Jahre jünger wirkte. Ich wusste nicht, was diesen Wandel hervorgerufen hatte, aber mir war es recht so. Eine fröhliche Mama gefiel mir besser als eine mürrische.
Frau Lehmann eröffnete das Gespräch jedoch mit einem ernsten Gesichtsausdruck. Mir war ein bisschen schlecht und in meinen Beinen zog es unangenehm – ich wusste, was kommen würde.
„Herr und Frau Engel, ich möchte gerne mit ihnen besprechen, wo wir im Moment mit Joelles Therapie stehen. Leider habe ich keine sehr guten Neuigkeiten für sie beide. Joelle ist schon im Bild", begann Frau Lehmann. Sie hatte lächelte traurig.
Sofort erlosch der fröhliche Ausdruck in der Miene meiner Mutter und wich Verdutztheit. Mein Vater atmete tief ein und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Sein Bart verdeckte den Teil des Gesichts, welcher mir Aufschluss über seine mentale Lage gegeben hätte, aber auch seine Augen sprachen Bände. Er ging vom Schlimmsten aus, auch wenn er weitaus entspannter wirkte als meine Mutter.
Dr. Anschel ergriff das Wort. „Seit wir Joelle als Patientin aufgenommen haben, hat sich ihr Zustand immer wieder stark verändert. Deshalb würde ich nicht direkt davon ausgehen, dass die momentane Phase viel zu bedeuten hat. Tatsache ist jedoch, dass wir in einer bereits sehr lange andauernden Tiefphase feststecken, die vor allem für ihre Tochter, aber auch für ihr direktes Umfeld, sehr belastend ist. Deswegen würde ich vorschlagen, etwas drastischere Massnahmen zu ergreifen." Der kahlköpfige Mann sagte dies mit einem gütigen Unterton, als versuchte er, meine Mutter so wenig wie möglich zu beunruhigen. Es schien nicht ganz zu klappen.
Mama begann, nervös an den Ärmeln ihres Cardigans herumzufummeln und sah hektisch zwischen mir, Paps und Dr. Anschel hin und her, fast schon wie wenn sie erwartete, einer von uns würde sie jeden Moment angreifen.
„A...aber...es geht ihr doch besser. Ich habe sie in den letzten Tagen erlebt, sie...sie war wieder aufgestellt und lebendig", stotterte sie ungläubig. Ich schluckte und starrte auf den Tisch, auf dem meine Hände lagen und sich ineinander verkrampften. Der Tisch war hell, kaum gemasert, die Oberfläche glatt.
„Frau Engel, laut den letzten Besprechungen und dem Schmerzfragebogen von letztem Mal geht es ihrer Tochter alles andere als besser. Als sie zu uns kam, hatte sie moderate bis starke Schmerzen im rechten Ellenbogen und dem Unterarm. Mittlerweile sind die Nerven des gesamten Körpers betroffen und lassen sie starke bis sehr starke Schmerzen erleiden. Im Bezug auf die motorischen Fähigkeiten sind wir sehr stolz auf die erlangten Resultate, da Joelle durch konsequente Therapie beinahe wieder uneingeschränkt in ihrer Bewegung ist, aber der Knackpunkt sind diese Schmerzen, die einfach nicht gehen wollen", erklärte Frau Lehmann. Ich sah zu ihr hoch, ihre Augen huschten kurz zu mir rüber.
Meine Mutter schüttelte den Kopf und verzog die Lippen, Paps kratzte sich am dunklen Bart. „Was haben Sie vor? Ich meine...mit den Therapien?", wollte er wissen, die Stimme rau. Dr. Anschel holte Luft und schob seine Nickelbrille, die an seiner Adlernase nach unten gerutscht war, zurück in Position.
„Nun, ich und meine Kollegen aus der Rheumatologie dachten an einen Aufenthalt in einer Schmerzklinik. Die Kinder- und Jugendklinik in Datteln bietet sich da an, denn sie liegt nicht zu weit weg und hat sich wie gesagt auf Kinder und Jugendliche spezialisiert", antwortete er.

Es entstand eine Pause, in der ich unsicher auf der Tischoberfläche herumkratzte, mein Vater die Augenbrauen hochzog und meine Mutter Löcher in die Luft starrte. Als sie nichts sagte, ergriff Paps erneut das Wort.
„Wann und wie lange müsste Joelle denn dorthin?" Frau Lehmann sah kurz Dr. Anschel an, dann ihr Blatt.
„Ideal wären so um die drei oder vier Wochen, nach Bedarf auch länger. Wenn möglich noch diesen Sommer", wägte sie ab, nur meinen Vater ansehend. „Vier bis fünf Wochen oder länger?", entsetzte sich meine Mutter.
„Elsa, nicht!", murmelte Paps leise und versuchte, die Hand seiner Frau zu nehmen, doch sie entzog sie ihm. Dr. Anschel und Frau Lehmann beschlossen mit einem unbehaglichen Blick, dass sie ein anderes Thema anschneiden würden und setzten einen fröhlicheren Ausdruck auf.
„Ja, aber dazu später mehr. Jetzt möchten wir mit ihnen gerne noch die neue Entwicklung im Fall Springreiten besprechen!", verkündete Frau Lehmann. Ich wusste nicht, ob das Glitzern in ihren Augen echt war, oder ob sie es sich in den Jahren ihrer Karriere als Psychologin antrainiert hatte. „Ich habe Ihnen ja bereits gesagt, dass ich Joelles Bestreben danach, ihre alte Leidenschaft wieder aufzugreifen, nur unterstützen kann. Deshalb freut es mich natürlich riesig, zu hören, dass sie endlich eine Möglichkeit gefunden hat. Und dazu noch so eine prestigeträchtige!" Die ältere Frau zwinkerte mir zu. Mein Vater räusperte sich und rutschte in seinem Stuhl etwas nach unten.
Dr. Anschels Augen wurden kaum merklich schmaler. „Ich habe allerdings auch noch etwas dazu zu sagen. Aus medizinischer Sicht spricht zwar nichts dagegen, dass Joelle wieder auf diesem Niveau reitet, aber ich würde zur Vorsicht raten und es nicht übertreiben. CRPS ist eine heikle Angelegenheit und es hätte fatale Folgen, wenn sich ihre Tochter verletzen würde. Dazu kommt, dass sie geschwächt ist und das provoziert Unfälle, was sie sich ja sicher denken können. Deshalb weiss ich nicht, für wie klug ich diese Idee halten soll."
Erneut schluckte ich hart und senkte den Blick. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Darüber hatten sie mich nicht ins Bild gesetzt.
Nun war es mein Vater, der auf einmal wie verändert wirkte. Seine Augenbrauen rasten aufeinander zu und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Noch nie hatte ich meinen Vater wirklich wütend gesehen, immer nur kurz davor. Deshalb erstaunte es mich auch nicht, als er seine Hände wieder streckte und mich dann mit ruhigem Ton bat, den Raum zu verlassen und sie für einen Moment alleine zu lassen.
Das verwirrte mich, aber nachdem Frau Lehmann mir zugenickt hatte, tat ich wie mir befohlen und erhob mich von meinem Stuhl. Auf dem Weg nach draussen fühlte ich mich beobachtet, das Gefühl ebbte sofort ab, als ich die Tür hinter mir schloss und mich direkt davor positionierte. Kaum hatte ich das Zimmer verlassen, begann dort drin eine heftige Diskussion, durch die Tür konnte ich fast jedes Wort mithören.

„Wie können Sie es wagen?!", wütete mein Vater. Ich hörte eine Faust auf dem Tisch landen.
„Nein, jetzt rede ich!", fuhr er so laut fort, dass mir ganz anders wurde, „Sie hat wegen Leuten wie Ihnen mit dem Springen aufgehört und sie hat es jeden einzelnen Tag dieser zwei Jahre, die seitdem vergangen sind, bereut! Denken Sie, ich sehe meinem eigenen Kind nicht an, wie es sich quält? Sie haben nicht ihren Blick gesehen, bei jedem dieser Springturniere im Fernsehen! Als Vater reisst es einem fast das Herz heraus, seine Tochter so leiden zu sehen! Sie hat nicht nur körperliche Schmerzen, sondern auch seelische. Jeden Morgen und jeden Abend hat sie die Zeitungen und Internetseiten nach einer Möglichkeit durchkämmt, wieder mit dem Springen anzufangen und jedes Mal wurde sie vertröstet! Und jetzt sehe ich, wie mein Mädchen, das wöchentlich beinahe an seinen Schmerzen verreckt, wieder lächeln kann! Haben Sie gehört? Sie lächelt wieder! Also tun Sie alles, was in Ihrer Macht steht, aber nehmen Sie ihr das Springreiten nicht noch einmal weg! Das erträgt sie nicht! Und ich ertrage es nicht, sie noch einmal so zu sehen!"
In mir stiegen die Tränen hoch. Ich konnte nicht sagen, warum, ich konnte sie nicht zurückhalten. In meinen Beinen flammte der altbekannte Schmerz auf, sodass ich mich auf einen Stuhl neben der Türe sinken lassen musste, die Hände vor mein Gesicht gepresst.
Heisse Tränen trübten meine Sicht und es wäre nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie meine Wangen runterrinnen und meine Ärmel benetzen würden. Verzweifelt versuchte ich, es zu unterdrücken, doch der Versuch ging in stummem Schluchzen unter. Verflixt. Was war es denn? Meine Brust bebte und ich fühlte mich hundeelend, aber ich wusste gar nicht genau, warum.
Dr. Anschel hatte mir das Springreiten nicht weggenommen. Er hatte kein Verbot ausgesprochen, nicht bei Ludger Beerbaum angerufen. Nichts hatte er getan. Und trotzdem fühlte ich mich, als hätte er gerade versucht, mir mein Herz rauszureissen.
Mama sagte irgendetwas, das ich nicht verstehen konnte, weil sie es zu leise sagte. Frau Lehmann und Dr. Anschel erwiderten beide etwas darauf, dann hörte ich Schritte. Als Frau Lehmanns grauer Schopf im Türspalt erschien, schaffte ich es nicht, mich zu erheben, sondern flehte einfach nur mit tränenerstickter Stimme: „Bitte nicht, ich kann reiten, ich verspreche es! Ich kann das schaffen, ich kann reiten! Bitte tun Sie das nicht! Ich kann reiten!"

Zum Abendessen gab es Gulaschsuppe. Keiner von uns dreien wagte es, auch nur ein Wort zu sagen, also löffelten wir einfach nur die Suppe leer und räumten dann schweigend ab.
Als ich oben in meinem Zimmer sass und auf dem Radio eine CD von Nickelback einlegte, griff ich nach meinem Handy und zwang mich, auf WhatsApp den Chat mit Andrea zu öffnen. Diese Woche hatte ich sie zweimal vertröstet mit der Ausrede, ich hätte mir die Grippe eingefangen. In Wahrheit wollte ich ihr einfach nicht erklären müssen, warum ich nicht mehr kommen würde.
Klar würde sie sich sicher für mich freuen, dass ich diesen grossen Schritt getan hatte, aber ich hatte Angst vor dem, was sie mir nicht sagen und nicht schreiben würde. Dass sie enttäuscht war. Dass sie sich verraten fühlte. Dass sie keine Lust hatte, wieder alleine ausreiten gehen zu müssen. Seufzend begann ich, eine Nachricht zu tippen.

Hallo Andrea
Tut mir leid, dass ich diese Woche nicht kommen konnte.

Ich verzog das Gesicht und löschte die Nachricht wieder. Nein, so konnte ich nicht anfangen. Kurz überlegte ich, hörte einfach nur der Stimme von Chad Kroeger zu, wie er den Refrain von Lullaby anstimmte, und bekam Gänsehaut. Dann begann ich erneut.

Hallo Andrea
Es tut mir leid, dass ich dir das so sagen muss, aber ich kann leider nicht mehr mit dir ausreiten kommen. Eigentlich bin ich deshalb diese Woche auch schon nicht mehr gekommen, aber ich hatte Angst, dass du enttäuscht sein könntest. Jedenfalls habe ich einen Trainingsplatz fürs Springreiten bei Ludger Beerbaum bekommen und werde deshalb keine Zeit mehr für dich und Toby haben. Wenn ich darf, würde ich euch aber gerne immer mal wieder besuchen kommen...
LG, Joelle

Mir war nicht ganz wohl dabei, als ich die Nachricht absendete, aber ich wusste, dass ich sie, wenn ich jetzt zögerte, wieder löschen und Andrea nie schreiben würde. Also tat ich es trotz meines unangenehmen Gefühls. Die Antwort liess keine fünf Minuten auf sich warten.

Hallo Joelle
Ich dachte mir schon, dass da was im Busch ist... Ist für mich aber okay, das ist eine Riesen-Chance, die du nutzen solltest! Sei dir aber bewusst, dass du jederzeit zurückkommen kannst! Meine Tür steht dir immer offen! Viel Spass und viel Glück!
LG, Andrea

Keep Dreaming - Ich werde reitenWhere stories live. Discover now