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Wir standen auf einer Platte, die in der Luft schwebte, wie ein Balkon. Getragen von der Treppe und einer Stütze. In einer Ecke standen drei Flaschen Limonade und ein paar Snacks. Die Holzplatte war zu zwei Seiten offen und es gab kein Dach. Man hatte einen wunderbaren Ausblick über die Stadt. Dieser Ort könnte glatt als Aussichtsturm für Touristen durchgehen. Und er war viel schöner, als die ganzen Waldlichtungen und Seen aus meinen Büchern. Mir stand der Mund offen und Nate lächelte.

„Schön, oder?", fragte er und ich drehte mich zu ihm um.

„Schön? Das ist unglaublich!", rief ich und breitete die Arme aus. Hier oben war es etwas windiger als auf dem Boden. Mir fuhr ein Windstoß durch die Haare und ich musste kurz die Augen zusammenkneifen.

„Es ist ein Traum", hauchte ich.

„Ich bin öfters hier, wie du vielleicht siehst"

Nate deutete auf die Flaschen in der Ecke.

„Alleine?", fragte ich und er nickte.

„Ja. Ich nehme nicht so viele mit hier hin, weißt du. Nur besondere Leute"

„Schleimer", lachte ich und er grinste.

„Ich sitze oft einfach Stunden lang hier oben, lasse die Beine baumeln und denke nach. Manchmal schreibe ich etwas, aber meistens sitze ich nur hier, trinke Limonade und warte bis es dunkel wird."

„Was schreibst du denn?"

„Gedichte. Aber sie sind schlecht, deshalb wirst du nie eins zu Gesicht bekommen", sagte er und ich machte eine theatralische Geste.

„Ach, der bescheidene Dichter. Das unentdeckte Talent. Der stille Poet."

Nate öffnete gerade zwei Limonaden für uns und musste schmunzeln.

„Ich bin kein unentdecktes Talent. Das kannst du mir glauben, Chloe Waldorf. So, Themenwechsel bitte!"

Ich zuckte mit den Schultern und nahm die Flasche entgegen.

„Danke."

Wir setzten uns auf den Rand der Platte. Das war eine typische „Situations-Situation", wie es mein Dad nannte. Eine Situation, in der man an nichts anderes mehr dachte und Dinge tat, die man vielleicht nachher bereuen würde, oder die man sonst nie tun würde, oder vor denen man einfach Angst hatte. Doch in dem Moment kümmert man sich nicht darum, weil man wie in Trance ist. Alles andere ist egal. Mein Dad sagt, solche Situations-Situationen sind gelegentlich mal ganz gut, damit man sich überwindet und neue Sachen dazulernt. Ob es nun eine gute oder eine schlechte Erfahrung ist: Am Ende weiß man etwas Neues. Ich hielt es immer für Schwachsinn, sich auf etwas womöglich Gefährliches einzulassen. Es ist lebensmüde und dumm, etwas zu tun, wovor man Angst hat. Es ist schließlich gut, Ängste zu haben. So beschützt das Leben uns vor gefährlichen oder unangenehmen Situationen. Doch meine Meinung darüber hatte sich soeben geändert. Meint ihr, wenn ihr Chloe Waldorf gefragt hättet, ob sie sich auf die Kante eines 20 Meter hohen, quasi in der Luft hängenden, Bretts setzten würde, hätte sie Ja gesagt? Nein. Sie hätte Nein gesagt. Sie wäre niemals auf die gefährliche Idee gekommen, das zu tun, ja nur daran zu denken. Doch jetzt tat sie es. Jetzt tat ich es. Und es war verdammt cool. Auch, wenn meine Füße nur leicht über das Ende der Plattform ragten, war es ein Gefühl von Freiheit und Lebenslust. Vielleicht lag mein plötzlicher Gefühlswandel auch daran, dass ich weniger Sauerstoff hatte als auf dem Boden, doch ich war plötzlich glücklich. Einfach glücklich. Sonst nichts. Nur Nate, ich und L.A., das uns zu Füßen lag.

„Ich möchte mal Nachts hier hin", sagte ich entschlossen und Nate nickte.

„Die Lichter sind in der Nacht wunderschön."

„Gehst du morgen Abend noch einmal mit mir hier hin? Bitte", bettelte ich und Nate tat so, als müsste er überlegen.

„Aber nur weil du es bist!"

Ich grinste ihn breit an und nahm einen Schluck von meiner Kirsch-Limonade.

„Wann müssen wir eigentlich bei dir sein, wegen dem Abendessen?", fragte Nate und ich schaute auf die Uhr.

„Um sieben sollten wir Zuhause sein", sagte ich.

„Dann können wir ja noch ein bisschen bleiben. Möchtest du Schokolade? Ich habe Weiße, Vollmilch und Zartbitter. Alle noch nicht angebrochen."

Nate zeigte auf seine ansehnliche Sammlung unausgepackter Schokolade.

„Ich nehme Vollmilch", sage ich.

Und so schob ich mir ein Stück Schokolade in den Mund, während ich an Nates Schulter lehnte und wir die Stadt betrachteten und über alles Mögliche redeten.

Besser hätte der Nachmittag nicht sein können.

A/N: Ich glaube, das hier ist mein Lieblingskapitel. Ist zwar etwas kürzer, aber ich habe eh das Gefühl, dass diese Geschichte nicht gelesen wird... naja, ich mache trotzdem weiter! :)))

Manchmal trägt das Glück Socken in SandalenWhere stories live. Discover now