Eins

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Ein unmotiviertes Grummeln verlässt die Kehle des dunkelhaarigen Jungen, der sich im Wohnzimmer gerade wieder auf die Couch geworfen hat. Das erste Mal samstags zu Hause, seit Monaten. "Muss ich wirklich? Frag doch Manu.." Raunt er in die Kissen und schreckt im nächsten Moment hoch, als ihn etwas Hartes am Bauch trifft. Fred schaut ihn von der Zimmertür her genervt an. "Der ist doch nicht da! Man, Luc, jetzt beweg dich doch mal! Das ist die Gelegenheit, endlich mal die Leute hier kennenzulernen. Wir wohnen seit über einem halben Jahr hier und kennen niemanden." "Wir waren ja auch nie zuhause!" Fängt Luca an, zu diskutieren, doch Fred schüttelt energisch den Kopf. "Das ist überhaupt kein Argument, Luc! Guck dir doch mal Johnny an, der kennt gefühlt sein ganzes Viertel!" Er hebt Luca's zweiten Turnschuh auf und zielt damit auf seinen Mitbewohner. "Ey, Fred, nicht! Ich komme ja schon!" Gibt der sich geschlagen und erhebt sich schwerfällig. Im langen, schmalen Flur der Dreier-WG entreißt er Fred unter bösen Blicken seinen Schuh und schlüpft hinein. Seine blaue Bomberjacke findet den Weg von der überfüllten Garderobe, auf seine Schultern. Wehmütig sieht Luca zurück zur Couch. Manchmal hasst er Freds Tatendrang wirklich. Aber er hat ja schon irgendwie recht. Sie kennen hier wirklich nur eine Hand voll Leute. Widerwillig folgt Luca ihm aus der Wohnung im zweiten Stock, die knarrenden, alten Treppenstufen hinab. Schon im Treppenhaus ist das rege Treiben vom Herbstfest zu hören. Musik und Stimmengewirr der vielen Menschen, die über den Marktplatz schlendern und hier und da neugierig an den Ständen stehen bleiben. Fred zieht die schwere Holztür auf und sie treten nach draußen.

Mit dem Lärm schlägt ihnen auch die kalte Herbstluft entgegen. Fred fröstelt und zieht sich seine Mütze weiter über die Ohren. "Ganz schön kalt.." Bibbert er, Luc wittert seine Chance. Er dreht sich zur Haustür um. "Stimmt. Dann können wir ja wieder.." "Nichts da! Komm jetzt!" Lacht Fred und packt Luc am Ärmel, um ihn über die Straße auf den Marktplatz zu zerren. Hier und da schauen sie sich die Stände an. Von den meisten wäre die Zielgruppe wohl eher ihre Mamas gewesen. Honig, verschiedene Dinge aus Kürbis und Stricksachen. Aber vom Duft des leckeren Essens lassen sie sich dann doch locken und quatschen nebenbei mit den Leuten. Alle sind total nett und offen und viele von den Gleichaltrigen hier kennen die Jungs durch ihre Musik und machen sogar selbst welche. Luc ist irgendwann doch ganz froh, dass Fred ihn her geschleift hat. Neue Freunde zu finden ist doch echt cool. Einige von ihnen wohnen sogar direkt nebenan. Sein Blick schweift durch die Menge und bleibt an einem Mädchen hängen, das irgendwie nicht ins Bild der fröhlichen, lachenden Menschen passt. Ihre Klamotten sind dreckig und sie hat ihr Gesicht und ihre Haare unter der Kapuze einer dünnen Jacke versteckt, unter der Luc wohl frieren würde, was er eigentlich nie tut. Unauffällig quetscht sie sich zum Stand durch, an dem er mit Fred steht und stiehlt sich Essen vom Tresen, dass sich jemand anders bestellt hat. "He!" Stößt Luc hervor, entsetzt über ihre Dreistigkeit. Das Mädchen zuckt ertappt zusammen und hebt den Kopf. Erschrocken schaut sie ihn an, Luc schnappt nach Luft. Ihr Gesicht ist so zierlich und schön und gleichzeitig wirkt es unglaublich traurig und fragt Luc sich, was sie wohl zum Stehlen zwingt. Sie starren sich reglos an, bevor auch der Besitzer des Essens merkt, dass er beklaut wird und sie verscheucht. Panisch lässt das Mädchen den Pappteller zurück auf den Tresen fallen und verschwindet in der Menge. Verwirrt huscht über Luca's Gesicht.

Was ist das denn jetzt gewesen? Nachdenklich nippt er an seinem Bier und schaut zu Fred, der zu vertieft in ein Gespräch mit jemandem ist, um irgendwas mitzukriegen. Der hilflose Blick des Mädchens lässt Luc den ganzen Nachmittag nicht mehr los. Auch Fred scheint am Abend endlich zu merken, dass irgendwas nicht stimmt. "Du bist so still.. alles okay?" Fragt er ihn, als sie den Gehweg entlang schlendern, in Richtung WG. "Ich.. Ja. Alles gut." Murmelt Luc und fühlt sich im gleichen Augenblick schlecht. Wieso kann er es Fred nicht sagen? Noch verwirrter als zuvor, schließt er die Haustür auf. Oben lässt er sich direkt auf sein Bett fallen. "Komischer Tag.. komisches Mädchen.." Seufzt er, starrt an die Decke über ihm. Irgendwie tut sie ihm leid. Sie hat sicher Hunger und kein Geld. Wo wohnt sie wohl? Wohnt sie überhaupt irgendwo? Hat sie Eltern? Hundert Fragen schießen Luc durch den Kopf, auf die er keine verdammte Antwort hat und das macht ihn irgendwie unzufriedener, als es vielleicht sollte. Er kennt sie doch gar nicht. Aber genau das.. ist ja das Problem.

dark sea [a giant rooks fanfiction]Où les histoires vivent. Découvrez maintenant