Sechs

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Obwohl Linnea jetzt schon seit drei Wochen bei den Jungs wohnt, hat sie immer wieder Probleme, einzuschlafen. Und wenn sie es schafft, wacht sie oft schweißgebadet aus einem Albtraum auf. Sie dreht sich von einer Seite auf die andere und wieder zurück. Seit sie vor zwei Stunden ins Bett gegangen ist, hat sie keine Sekunde geschlafen. Jedes Mal, wenn sie die Augen schließt, sind da diese verschwommenen, dunklen Gesichter, über der Wasseroberfläche und sie selbst sinkt immer und immer tiefer, bis alles schwarz ist. Auch, wenn Linnea die Gesichter noch nie erkennen konnte, weiß sie, zu wem sie gehören. Sie wurden ihr einfach genommen. Mit einem Mal fährt sie von ihrem Kissen hoch und keucht. Ihr Herz hämmert in ihrer Brust vor Angst, kalter Schweiß steht auf ihrer Stirn. Im Zimmer ist es dunkel. Lediglich der dünne Lichtstrahl, der durch den Spalt der angelehnten Tür fällt, lässt Linn die Umrisse von Luca's Möbeln erkennen. Vom Wohnzimmer dringen dumpfe Stimmen herein, doch mehr als Wortfetzen kann sie nicht verstehen. ".. Linnea.." Natürlich reden die Jungs über sie. Sie schleicht vorsichtig in den Flur. Die Lampe auf der Kommode leuchtet. Linn linst ins Wohnzimmer. Fred sitzt im Sessel im hinteren Teil des Raumes und hält ein zerfleddertes Buch in den Händen, während Luca sich auf der Couch ausgestreckt hat und Manu nur wenig Platz lässt. "Hey.." Sofort schauen drei Augenpaare das Mädchen an. Luca setzt sich hastig auf. "Linn! Alles okay?" "Ich.. kann nicht schlafen.." Unsicher tritt sie von einem Bein aufs andere und knetet ihre Hände. "Magst du zu uns kommen? Wir wollen gleich noch einen Film gucken." Fragt Luca, klopft einladend aufs Sofapolster. Linnea überlegt kurz, ehe ihre Mundwinkel sich zu einem frechen Grinsen verziehen. "Wenn ich den Film aussuchen darf?" Die Jungen schmunzeln und nicken. "Klar. Was willst du sehen?" Erklingt Freds raue Stimme. Linn strahlt und setzt sich neben Luc, um sich an ihn zu kuscheln. Er legt ihr einen Arm um die Mitte und grinst. Irgendwie hat er so eine Ahnung, was sie antworten wird. "Harry Potter 2!" Während die anderen beiden wieder nicken, lacht Luca auf und greift zur Fernbedienung. "Wieso wusste ich das?" Linn kichert und zuckt mit den Schultern. "Ich weiß nicht." Sie legt ihren Kopf an seine Schulter und schaut zum TV, auf dem kurz darauf das Intro startet. Immer mal wieder zuckt ihr Blick zu Fred. Mittlerweile kann sie sich überhaupt nicht mehr vorstellen, dass Fred irgendwem etwas tun könnte. Dass er so herumschreien kann. Im Gegensatz zu Manu und Luca, die beide ziemlich groß und kräftig sind, ist Fred nämlich eher klein. Seine Schultern sind schmaler und überhaupt scheint er recht zierlich zu sein. Sein Haar fällt ihm ins Gesicht, bis er es sich hinters Ohr schiebt. Eine Angewohnheit, die Linnea schon längst an ihm aufgefallen ist. Fred scheint ihren Blick bemerkt zu haben. Zaghaft lächeln sie einander an, Linn versucht wie so oft, seine Augenfarbe zu erkennen. Sie weiß, dass sie dunkel sind, doch in dem schwachen, flackernden Licht des Fernsehers, kann sie sich mal wieder nicht sicher sein. Freds Augen wandern wieder zum TV, doch Linns neugieriger Blick ruht weiter auf ihm. Und dann fallen ihr irgendwann ganz langsam die Augen zu.

"Linnea? Linn, hey.." Warme Finger streichen durch ihr Haar, Linn zuckt zusammen und reißt die Augen auf. Es ist nahezu dunkel, doch sie spürt sofort, dass es Luca ist, der sie weckt. Ist sie auf ihm eingeschlafen? "Was? Oh, du bist es.." Nuschelt sie verschlafen, zwingt sich, die Augen ganz zu öffnen. Der Fernseher ist aus und scheinbar sind Fred und Manu schon schlafen gegangen. "Na toll. Ich wollte das doch unbedingt gucken." Stößt Linn frustriert hervor, Luca lacht leise auf. "Wir können ihn morgen nochmal gucken, wenn du möchtest. Ich wollte dich eigentlich gar nicht wecken, aber ich war mir nicht sicher, ob du wirklich hier im Wohnzimmer schlafen willst?" Fragt er leise, seine Finger streicheln ganz vorsichtig ihre Seite auf und ab und bleiben an ihrer Taille liegen. Ganz sanft lächelt er sie an. Ob sie sein Herz wohl hören kann, das gerade viel zu laut in seiner Brust hämmert? Doch Linn schüttelt bloß den Kopf und steht auf. "Hm, nein.. ich glaube, ich schlaf lieber in deinem Zimmer. Da bin ich.. da bin ich nicht allein, wenn.." Sie verstummt. Die ganze Zeit hat sie nicht an den Traum gedacht, doch jetzt kommt es wieder hoch. Besorgnis schiebt Luca's Enttäuschung zur Seite, er erhebt sich ebenfalls und mustert Linn. Angst huscht über ihr schmales Gesicht.  ".. wenn die schlimmen Träume wieder kommen?" Beendet er ihren Satz, Linn seufzt. "Hm.. ja." "Linn.. möchtest du drüber reden? Du bist doch ins Wohnzimmer gekommen, weil du nicht schlafen konntest, oder?" Seine Hand streicht wieder so vorsichtig durch ihr Haar. Linnea nimmt sie in ihre und zieht Luca schweigend in sein Zimmer. Er versteht und setzt sich auf sein Bett, knipst das kleine Licht auf dem Nachttisch an. Linn macht sich auf den Weg zu ihrem Sofa, als seine Worte sie stoppen. "Du kannst auch herkommen, weißt du?" Fragt er ganz mutig, sie zieht überrascht die Augenbrauen hoch. Sie soll zu ihm kommen? Auf sein.. Bett? "Oh.. okay." Sie holt ihre Bettwäsche und legt sich neben Luca aufs Bett. Kuschelt sich unter ihre Bettdecke, bis zur Nasenspitze.

Eine Weile starren sie beide an die Decke, Luca lässt ihr die Zeit, die sie braucht. Wenn sie reden möchte, wird sie es schon tun. Er findet es schön, dass sie überhaupt wieder so nah zu ihm gekommen ist. Hat sie womöglich vorhin im Wohnzimmer gar nicht gemerkt, dass er ihre Nähe gesucht hat? Luca grübelt. Vielleicht weiß sie gar nicht, wie es ist, sich näher zu kommen. Einen Freund hat sie ja noch nicht erwähnt. Andererseits.. was weiß Luca schon? Womöglich hat sie auch den verloren und möchte noch nicht darüber reden. Er hört, wie Linn durchatmet und schaut sie an. "Ich.. ich weiß nicht, wieso ich das immer wieder träume." Fängt sie an. Luc zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. "Hast du immer denselben Albtraum? Den mit.. mit Benne?" "Nein, das mit Benne träume ich selten. Dieser.. dieser kommt oft. Fast jede Nacht.." Ein Gähnen verlässt ihren Mund. "Oh man.. und.. was passiert in diesem Traum?" Luc dreht sich auf die Seite, um Linn besser anschauen zu können. Unsicher zuppelt Linnea am Stoff ihrer Decke herum. Sie hat noch nie jemandem davon erzählt. "Also.. da sind ihre Gesichter.. Mama.. Papa.. Benne und noch andere.. und ich werde ins Wasser hinab gezerrt und sie.. lassen mich einfach allein." Linn blinzelt krampfhaft gegen die Tränen an, die sich in ihren Augen sammeln. "Ich möchte diesen Traum nicht mehr.. ich hasse ihn.. er führt mir immer wieder vor Augen, dass niemand bei mir bleiben wird, egal, wie sehr ich es versuche. Was mache ich denn falsch, Luc? Ich hab Angst davor, dass ich da nie raus kommen werde.. Dass es immer und immer wieder passiert. Diese Einsamkeit ist wie ein Meer. Es ist, als würde ein schwarzes Meer dich gnadenlos in die Tiefe ziehen und dich nur ausspucken, um dir wieder und wieder zu zeigen, dass nichts und niemand für dich da ist. Das.. das ist kein schönes.. Gefühl, weißt du?" Jetzt laufen ihr doch heiße Tränen über die Wangen, Linn beginnt zu weinen. "Hey, schhh.. nicht doch.." Eilig rutscht Luca weiter zu ihr. Linns Finger krallen sich in seinen Pulli, als hätte sie Angst, auch Luca könnte plötzlich einfach verschwinden. Luca tut es mit jedem Mal mehr weh, das Mädchen so verzweifelt zu sehen. "Schhh.." Macht er, sucht nach Worten, die ihr helfen könnten. "Linn.. hey, schau mich mal an." Fragend blicken gerötete Augen in graue. "Ich möchte, dass du weißt, dass dir das hier bei uns nicht passieren wird. Ich.. wir lassen dich nicht ertrinken. Ich.. Ich halte dich fest." Versichert er und zieht sie in seine Arme. "Siehst du? Ganz fest." Seine Umarmung wird immer inniger und kuscheliger, bis Linn nach Luft japst und unter Tränen kichert. "Okay, okay. Ich glaub dir! Du.. du erdrückst mich." Er lacht leise und lässt ein wenig lockerer. "Das ist echt.. lieb von dir, Luc." Luca entdeckt sowas wie Hoffnung in ihren Augen und wischt lächelnd ihre Tränen fort. Linn erwidert sein Lächeln ganz schwach, bevor sie doch wieder gähnen muss. "Was meinst du, hm? Schlafen?" Murmelt Luca, sie nickt und kuschelt sich totmüde an ihn. "Ja.." Flüstert sie, lässt ihre Augen endlich zu fallen. Luca zieht umständlich seine Decke über sie beide. Sein sanftes "Schlaf gut, Linn." hört sie nur noch ganz leise und Luca's warme Fingerspitzen an ihrer Wange spürt sie schon nicht mehr.

dark sea [a giant rooks fanfiction]Where stories live. Discover now