Zwei

348 10 6
                                    

Leises Klopfen an seiner Zimmertür reißt Luca spät am Abend aus seinen kreisenden Gedanken. "Ja!?" Ruft er, Manu steckt seinen blonden Kopf in den Raum. "Hey.. sag mal, ich bin gerade heim gekommen und unten sitzt ein Mädchen auf der Treppe. Also draußen. Weißt du, wer das ist? Sie hat keinen Ton gesagt." Ungläubig glotzt Luca seinen Mitbewohner an, um im nächsten Moment seine Beine vom Bett zu schwingen und in den Flur zu flitzen. Er weiß ganz genau, wer da unten hockt. Auf Socken joggt er die Treppen hinab und kommt etwas außer Atem unten an, um die Haustür aufzureißen. Mit einem lauten Schrei fährt das Mädchen von den Stufen hoch und starrt ihn an. "Woah! Sag mal, spinnst du?" Faucht sie, Luca ist für ein paar Sekunden sprachlos. Wieso hat er es überhaupt so eilig gehabt? "Ähh.. sorry. Also.. ähm.. ups." Stottert er, kratzt sich verlegen am Hinterkopf. Da ist er wohl ein wenig zu forsch gewesen. Sie atmet durch. "Schon gut.. ich.. ja.." Sie scheint nicht ganz zu wissen, was sie sagen soll. "Was.. machst du denn hier?" Versucht Luca es ganz zaghaft, er möchte sie nicht nochmal so überrumpeln. Sie legt den Kopf schief. Schaut ihn an, mit einem Blick, den Luca nicht deuten kann. Skeptik? Ungläubigkeit? Frust? Er ist sich nicht sicher. "Ich.. ich weiß nicht. Ich dachte.. ach ich weiß auch nicht.." Schnell verstummt sie wieder, lässt sich auf die Treppenstufen fallen. Ihr Blick senkt sich. Mit einem Mal sieht sie wieder so traurig und zerbrechlich aus. Luca fährt sich mit den Händen durch die Haare und blickt hinauf zum erleuchteten Fenster im zweiten Stock. Fred ist noch wach. Was er wohl sagen würde, wenn..? Luca hockt sich vor ihr auf das holprige Kopfsteinpflaster. Augenhöhe. Die Kälte der Steine kriecht in seine Socken, doch das merkt er gar nicht. "Kannst du mir dann sagen, wie du heißt?" Fragt er, sie nickt kaum merklich. "Linnea." Flüstert sie, Luca zieht erstaunt die Augenbrauen hoch. Seltener Name. Selten und echt schön. "Okay.. ich bin Luc. Möchtest du vielleicht mit hoch kommen, Linnea? Du hast doch Hunger, oder? Und dir ist sicher kalt?" Ganz leicht berührt Luc ihre eiskalten Hände.

Linnea zuckt erschrocken zurück und bereut es sofort. Seine Finger sind so warm gewesen und vorsichtig. Als sie den Jungen anschaut, lächelt er ermutigend. Wann wurde sie zuletzt angelächelt? Sie kann keinen Finger darauf legen, warum. Aber irgendwie hat Linnea das ganz merkwürdige Gefühl, dass der Junge mit der angenehmen Stimme, der offensichtlich seine Schuhe in seiner Wohnung vergessen hat, es ernst meint. "Du musst nicht.. ich hab gar nicht solchen Hung.." "Ich möchte aber." Fällt Luca ihr ins Wort und greift erneut nach ihrer Hand, um sie von den kalten Steinstufen hoch zu ziehen. Diesmal schreckt Linnea nicht zurück. Zu groß ist die Verlockung von Wärme und Essen. Sie folgt ihm ins Haus, schaut sich im Treppenhaus um und in dem länglichen Flur, als sie die Altbau Wohnung betreten. Sofort bekommt sie Gänsehaut, es ist so schön warm und gemütlich hier. Unsicher steht sie im Eingang, weiß nicht, wohin mit sich. "Zieh ruhig deine Jacke und Schuhe aus." Wieder diese beruhigende Stimme. Doch trotzdem Linnea zuckt bei Luca's Worten zusammen. "Ist nicht.. ist nicht meine Jacke.." Flüstert sie und schluckt den Kloß, der sich in ihrem Hals bildet, wieder runter. Luca runzelt die Stirn. Hat sie die geklaut? "Nicht?" "Sie gehörte meinem.. Bruder." Erklärt Linnea mit zittriger Stimme und Luca beschleicht das ungute Gefühl, dass sie ihren Bruder nicht mehr hat. Wieso sollte es ihr sonst so schwer fallen, ihn zu erwähnen? Er schämt sich sofort für seinen Verdacht, Linnea könnte die Jacke gestohlen haben. "Das tut mir leid.." Stille kehrt ein, Linnea zuppelt am Reißverschluss der Jacke, ehe sie ihn langsam hinab zieht. Schließlich streift sie sich zögerlich die Kapuze ab. Unsicher blickt sie Luca an und dann wieder auf ihre Schuhspitzen. Sie hat sich unter der Kapuze so sicher gefühlt. Unnahbar. Fremd für alle anderen. Jetzt, wo Luca sie von Kopf bis Fuß anschaut, fühlt sie sich entsetzlich verwundbar. Luca lächelt sie vorsichtig an. Sie sieht so fertig aus und trotzdem ist sie so schön. Ihr braunes, langes Haar fällt ihr strähnig über die Schultern, ihr rechtes Ohr wird von mehreren Piercings geziert. Erst jetzt fallen Luca die blassen Sommersprossen auf Linneas Nase auf. Ihr Gesicht ist blass, unter ihren Augen liegen dunkle Ringe. Luca verspürt plötzlich das Bedürfnis, sie zu umarmen und sie zu trösten. Doch damit würde er sie wohl endgültig verscheuchen. Eine Weile herrscht Stille im Flur, während die beiden sich irgendwie neugierig anstarren. Erst vom Knurren in Linneas Bauch wird das Schweigen unterbrochen. Vor Verlegenheit werden ihre Ohren rot. Ja gut, jetzt lässt sich ihr Hunger nicht mehr leugnen. Luca schmunzelt. "Okay, okay. Ich mach dir was zu essen, hm? Komm mit." Lacht er, Linnea wagt ein dünnes Lächeln. Wieso macht er sich solchen Aufwand? Es ist spät, er könnte doch schlafen gehen. Stattdessen grapscht er sich in der Küche eine Hand voll Spaghetti aus einem Glas von den Regalen und wirft sie in einen Kochtopf. Ein Glas Tomatensauce landet in einem kleineren Topf. "Ich hoffe, du magst Pasta?" Fragt Luca beiläufig und rupft einige Blätter vom Basilikum in der Fensterbank, um sie zu zerkleinern und in der Sauce zu versenken. Sein Blick huscht dabei zu Linnea, die nicht antwortet. Sie lächelt bloß scheu und nickt, während sie sich umschaut.

Ihr staunender Blick wandert durch die gemütliche Küche. Der leckere Duft des Essens lässt ihr das Wasser im Mund zusammen laufen und einmal mehr merkt Linnea, was für einen Hunger sie eigentlich hat. Mit zwei Tellern Nudeln setzt sich Luca ihr Minuten später gegenüber. Dankbar lächelt Linnea und beginnt zu essen. Schweigend leeren sie ihre Teller, Luca wirft ihr immer wieder Blicke zu. Eine Frage brennt ihm schon auf der Zunge, seit er die Haustür eben aufgerissen hat. "Du, woher wusstest du eigentlich, wo ich wohne?" Linnea beißt sich auf die Lippe. Sie möchte nicht, dass er denkt, sie wäre komisch. Wenn er das nicht sowieso schon denkt. "Ehm.. also.. ich hab abends gesehen, wo ihr rein gegangen seid. Du und der andere." Gibt sie zu, Luca staunt. Sie hat ihn beobachtet? "Das ist Fred, mein Mitbewohner.. du hast uns beobachtet?" Fragt er, während die leeren Teller in der Geschirrspülmaschine landen. Linnea nickt schüchtern. Er denkt jetzt bestimmt, sie ist total verrückt. "Ich weiß, das kommt irgendwie komisch.. Ich dachte halt.. ich hab gehofft, du könntest mir helfen.. aber ich wusste ja nicht, wo ich klingeln soll.." Das haut Luca endgültig um. "Nachdem ich dich quasi verraten habe, bei dem Stand?" "Ja.. ich.. du hast irgendwie ausgesehen, als wärst du ganz nett.. ich weiß nicht.." Die Röte steigt ihr erneut in die Wangen, Luca's Mundwinkel zucken verräterisch. Er fühlt sich ziemlich geschmeichelt. "Danke. Du bist auch ganz nett. Obwohl du mich so angeschrieen hast, unten." Neckt er, Linnea lacht verlegen. Doch Luca ahnt, dass es nicht von Herzen kommt. Es erreicht ihre Augen nicht. "Danke." Lächelt sie, steht auf. Was jetzt? "Kann ich mal ins Bad gehen?" Fragt sie, Luca nickt und zeigt ihr, wo es ist. Bietet ihr an, zu duschen und einen Stapel Klamotten, die ihm eh nicht mehr passen. Dankbar nimmt Linnea das Angebot an. Luca wartet in seinem Zimmer, während im Bad die Dusche rauscht. Auf dem kleinen Sofa unter den Fenstern legt er Kissen und Decke bereit und hält dabei inne. Möchte sie überhaupt hier schlafen? Oder lieber im Wohnzimmer? Während er noch überlegt, öffnet sich langsam seine Tür. "Luc?" Erklingt Linneas dünne Stimme, er fährt herum. Linneas Blick gleitet über die Laken in seinen Händen und sofort muss sie gähnen. "Müde?" Luca's schiefes Lächeln steckt sie an. "Ja. Unglaublich müde.." Nuschelt sie, die Müdigkeit lässt sie beinahe schwanken. "He, fall nicht um. Komm, machs dir gemütlich. Ich geh auch schlafen." Luca legt Decke und Kissen auf das Sofa und durchquert mit wenigen Schritten sein Zimmer, um sich auch ins Bett zu kuscheln. Das Licht ist schon lange aus, als Linnea zu flüstern beginnt. "Luc?" Er schlägt überrascht die Augen auf, obwohl er ja eh nichts sehen kann. "Hm?" "Danke." Hört er sie wispern und lächelt. "Gerne." Gibt er zurück und meint es wirklich so. Der Schlaf übermannt die beiden, der Tag ist viel zu lang und viel zu aufregend gewesen, um auch nur noch eine Sekunde länger wach zu bleiben.


dark sea [a giant rooks fanfiction]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt