Tränen

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Ich klopfte Dragon den Hals und schloss die letzte Schnalle der dunkelblauen Fleece-Decke. Der dunkelbraune Wallach drückte seine Nase an mich. Natürlich übertrug sich meine Verzweiflung auf ihn und wir waren zur Zeit beide total durch den Wind. Natürlich lag da dieser Plan in der Luft. Aber eines Nachmittags verließ mich wieder alle meine Kraft und ich war genau so weit, wie am Anfang. ich schmuggelte seit Tagen immer mehr Pferdefutter in Taschen mit mir herum. Ich würde verschwinden, bevor meine Mutter Dragon in die Finger bekommen würde. An diesem Nachmittag hatte ich gerade eine Stofftsche voll Futter in meinem Spind verstaut, als mir meine Mutter über den Weg lief. "Ach, hier bist du. Hast du eine Minute? Ich...würde gern mit dir reden." Ich folgte ihr in Richtung Stall. In einer ruhigeren Ecke blieb sie stehen und drehte sich zu mir um. "Ihr seid schlecht zur Zeit.", meinte sie und ich hätte ihr am liebsten eine gescheuert. Natürlich waren wir schlecht. Weder Dragon oder ich wollten diese verdammte Herumspringerei! Doch was sie dann sagte, erstaunte mich. "Ich merke, dass Dragonfly keinen Spaß am Springen mehr hat." Den hatte er noch nie, setzte ich in Gedanken hinzu. Dass sie das in ihrem Erfolgs-Wahn überhaupt bemerkt hatte grenzte an ein Wunder. "Ich...ähm..." Meine Mutter wusste nicht die richtigen Worte? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie wusste immer was sie wollte und auch immer was sie zu sagen hatte. Es war also ernst. Ich spannte mich an. Eine schreckliche Vorahnung schlich sich in meinen Kopf. Meine Mutter räusperte sich. "Ich weiß, wie sehr du an ihm hängst, Liliana." "Nein!", schrie ich. Sie hielt mich am Arm fest, aber ich riss mich los. "Ich hätte jemanden gefunden.", sagte sie schnell, bevor ich die Flucht ergreifen konnte. "Es wäre perfekt für ihn!" Ich rannte. "Überleg es dir!" 

Ich knallte die alte Holztür zu und lehnte mich schwer atmend dagegen. Ich war auf dem Heuboden, der einzige Ort, an dem man ungestört war. Schluchzend ließ ich mich ins Heu fallen. Ich konnte die erstickten Laute, die aus meiner Kehle drangen nicht zurückhalten. Ich presste mir eine Hand vor den Mund. Es half nichts. Bestimmt würde mich jemand hören. Ich drehte mich um und drückte mein Gesicht ins Heu. Ich bekam kaum noch Luft, aber das störte mich nicht. Ich wollte nichts mehr sehen und nichts mehr fühlen. Ich wollte überhaupt nichts mehr. Dann spürte ich doch etwas. Eine Hand, die mir zärtlich über den Rücken strich. Mein erster Impuls war mich umzudrehen und meiner Mutter eine zu scheuern. Aber als ich herumfuhr blickte ich in...blaue Augen. Liam. "Was willst du?", murmelte ich und drehte mich wieder um, damit er mein verheultes gesicht nicht zu lange sah. "Ich hab dich wegrennen sehen.", erklärte er, "und dann deine Mutter gefragt, was los ist." "Woher wusstest du, dass ich hier bin?" Er lächelte schwach. "Ich komme auch öfters hierher. Das Schluchzen hörte für einen Moment auf. Ich drehte mich wieder zu ihm. "Wieso tust du immer so, als könntest du mich verstehen. Niemand kann mich verstehen, wieso dann gerade du? Ich...ich..." Ich heulte schon wieder. "Shhh.", versuchte er mich zu beruhigen. Er drückte mich zurück ins Heu, damit ich mich wieder hinsetzen konnte. Zögernd setzte er sich neben mich. "Ich kann nicht zulassen, dass sie ihn verkauft!", schluchzte ich plötzlich, selbst verwundert darüber, dass ich es ihm erzählte, "Wenn ich nein sage, muss er weiter springen, wenn ich ja sage...das...das...geht nicht." Meine Stimme war brüchig und meine Hände zitterten. Vermutlich stand ich schon wieder nahe an einem Nervenzusammenbruch. Er legte seinen Arm um meine Schultern. Dann konnte ich keinen einzigen Schluchzer mehr zurückhalten. Alles brach aus mir heraus. Ich ließ mich in seinen Schoß sinken und heulte. Hysterisch. Was er jetzt von mir dachte, war mir herzlich egal. Er redete manchmal beruhigen auf mich ein oder strich mir über den Kopf, aber erst nach mindestens einer halben Stunde kam ich wieder zur Ruhe. Zu einer eisigen Ruhe. Ich nahm mir vor nie wieder ein Wort zu sprechen. Dann würde mir diese Entscheidung erspart bleiben. Die Entscheidung, ob ich Dragon verkaufen würde, oder nicht.

 

Pferde fliegen. Ohne Flügel. Mit dem Wind.Where stories live. Discover now