Sie sagte 'okay'

509 62 6
                                    

Es war angenehm warm. Dragon stand in seiner großen Laufbox und schaute aus dem Fenster. Der Wind spielte sanft mit seiner schokoladenbraunen Mähne. Ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. Trotz allem. Ihn zu sehen war immer eine Erleichterung. Meine Mutter war über Mittag nach Hause gegangen. Unser neus Haus war nicht in Sichtweite des Turnierstalls. Ich wollte die Zeit, in der ich nicht unter ihrer Macht stand, nutzen, um mal wieder eine kleine Runde auszureiten. Sie hatte es mir zwar verboten, aber sie war nicht da. Ich ging mit Sattel und Trense zu Dragon und er schnupperte daran. "Kein Training.", versicherte ich ihm und grinste. Es würde ihm gefallen, endlich mal wieder rauszukommen. Wahrscheinlich hatte er Power ohne Ende. Damit sollte ich recht behalten. Wir kamen unbemerkt vom Hof und da ich die Wege hier nicht kannte, folgte ich einem schmalen sandigen Pfad neben einem kleinen Bach entlang, da er mir optisch gefiel und der weiche Boden angenehm für Dragons Hufe war. Der Wallach hing andauernd in den Zügeln. Er blähte dei Nüstern und stellte den Schweif. Endlich erlebte ich ihn mal wieder zufrieden und ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln. Der Pfad wurde immer schmäler und erreichte schließlich den Waldrand, wo er sich zwischen den Dicken tannen hindurchschlängelte. Es roch wunderbar nach Wald und frischer Luft und Sommer. Im Wald war es recht dunkel, doch weiter vorne konnte ich einen helleren lichtstreifen sehen. Eine Lichtung? Vielleicht war das eine gute Möglichkeit zu galoppieren. Ich duckte mcih unter dem letzten tief hängenden Ast hindurch und blickte mich verwundert um. Die Lichtung war groß, umgeben von Tannen. In der Mitte stand ein einzelner Obstbaum und ungefähr die Hälfte der Wiese war...eingezäunt? Am Rande stand eine kleine verwahrloste Hütte, deren Dach eine Art Unterstand bildete. Was war das hier? Ich stieg ab und ließ Dragon grasen, dann schwang ich mich über den klapprigen Holzzaun und steuerte neugierig auf die Hütte zu. Das Dach war voller Moos und das Holz sah morsch aus. Die Tür klemmte ein wenig, aber schließlich schaffte ich es sie zu öffnen. Im inneren war alles leer. Die knarrenden Holzdielen waren staubig und in der Ecke stand ein kleiner Tisch, allerdings gab es keine Stühle. Achselzuckend schloss ich die Tür wieder. Vielleicht war es eine Hütte für Jäger oder so etwas. In meiner Hosantasche vibrierte es. Mist, eigentlich wollte ich das Handy nicht mitnehmen. Da Dragon sowieso noch immer friedlich graste, warf ich einen Blick darauf.

Ich weiß, dass du ausreiten bist. Deine Mutter kommt früher zurück, habe das eben mitbekommen. Beeil dich! Liam.

So kamen Dragon und ich dann doch noch zum Galoppieren.

 "Du zitterst.", stellte Liam fest. Er drückte die Klinke zum Aufenthaltsraum herunter und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. "Mom?", sagte ich heiser und meine Mutter drehte sich um. "Ja, Schatz?" "Ich würde gerne mit dir reden." Während ich das sagte warf ich Jakob, dem Stallmeister einen bittenden Blick zu. Er seufzte, nahm seine Zeitschrift und seinen Kaffee und verschwand. Liam schloss die Tür. Meine Hände zitterten und ich bekam keinen Ton heraus. Hilfesuchend blickte ich zu Liam. Es war seltsam. Er brauchte mir nur ermutigend zuzunicken und schon war alles ein bisschen einfacher. Wie gerne hätte ich jetzt auch Max hier. Mit Sicherheit würde mir dann alles noch leichter fallen. Ich stützte mich an einer Stuhllehne ab und krallte mich daran fest, als wäre es dasEinzige im Leben, das mir Halt geben könnte. Dabei war das jemand ganz anderes. Der einzige, der mir jetzt helfen könnte war Dragon. "Was gibt es denn, Schätzchen?" Der Blick meiner Mutter wanderte zwischen mir und Liam hin und her. Immernoch bekam ich keinen Ton heraus. "Es geht um die Turniere.", sagte Liam nach Minuten des Schwiegens, "Ich möchte Ihnen nicht zu Nahe treten, aber sehen Sie nicht, dass Ihre Tochter genauso leidet wie Dragon?" Das war der springende Punkt. Sah sie es nicht? Oder wollte sie es nicht sehen? "Wieso kannst du nicht selbst mit mir sprechen, Liliana?" Ihre Stimme hatte diesen eisigen Unterton. Irgendetwas zwang mich aufzuschauen. Ihr direkt in die Augen zu sehen, als ich sagte: "Weil du mir nicht zuhören würdest. Das hast du noch nie getan. Ich hasse das alles hier." Schweigen. Ich beobachtete jede ihrer Bewegungen. Immer auf der Hut. In diesem Moment sah sie so bedrohlich aus, dass ich zutrauen würde, dass sie mich schlägt. Und dann kam alles hoch. "Es war immer nur dein Traum, nie meiner. Wieso verstehst du das nicht?" Sie schaute auf den Boden, dann setzte sie sich. Sie kämpfte mit etwas, das spürte ich. Kämpfte sie gegen die Sucht? Die Sucht nach Erfolgen? Nach Preisen? Nach Ruhm? "Es ist meine einzige Bitte an dich: Ich werde die Geländestrecke der Kleebergs reiten, aber danach ist Schluss. Ein für alle mal. Ich kann nicht mehr. Dragon kann nicht mehr. Er bedeutet mir mehr als irgendjemand anderes. Ich kann nicht zulassen, dass du ihn mir nimmst. Und dann auch noch für die Turniere, die ich selbst nicht einmal will. Versprich es mir. Mama, bitte, sieh es endlich ein. Hör mir zu! Versteh mich endlich!" Alles was jahrelang in mir geschlummert hatte sprudelte nur so aus mir heraus. Ich war laut geworden. Ich war aufgesprungen. Ich hatte sie regelrecht angeschrien. Und alles was sie konnte, war schweigen. "Versprich es mir.", keuchte ich. Endlich blickte sie mir in die Augen. Ich funkelte sie an. Mein Blick war hasserfüllt. Ihrer war starr. Ich wusste nicht, was sie gerade fühlte. Und dann geschah etwas, dass ich nie zu träumen gewagt hätte. Sie sagte: "Okay." 

Pferde fliegen. Ohne Flügel. Mit dem Wind.Donde viven las historias. Descúbrelo ahora