1 | Dean

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New Blood - Zayde Wølf

Der Duft von Morgentau und Kiefernholz liegt in der Luft. Wie jeden Morgen im Frühling, wenn ich meine Runde um die Siedlung drehe und wie jeden Morgen ist auch sie bei mir. Ich weiß nicht, wer sie ist, wie sie heißt oder wo sie wohnt. Seit meinem siebten Lebensjahr ist sie an meiner Seite. Keine Ahnung, warum genau es damals passiert ist. Ob sie an dem Tag geboren ist? Das würde bedeuten, dass sie noch sehr jung ist, ein halbes Kind. Es würde die Sache komplizierter machen, doch ich kann warten. Ich habe schon fünfzehn Jahre überstanden und würde noch weitere fünfzehn Jahre überstehen, wenn sie am Ende nur endlich in meinen Armen liegt. Ich möchte ihr Lachen hören und nicht nur die schemenhafte Vorstellung dessen, was ich mir all die Jahre herbeigewünscht habe. Mein Finger sollen durch ihre sanften Strähnen gleiten, welche Farbe auch immer sie tragen mögen. Ich möchte ihr den Wald zeigen und all die schönen Orte, die mich an heitere Momente erinnern. Sie soll den Wolf kennen lernen, durch sein Fell streifen und mit ihm spielen. Eine schöne Vorstellung ist das.
Es muss allerdings nichts heißen, dass sie genau an diesem Tag in meinem Geist aufgetaucht ist. Der Weg des Schicksals könnte uns einfach verbunden haben, in dem Wissen, dass wir einander brauchen werden. Ich hoffe und bete zu den Göttern des Mondes und des Waldes, dass es eher früher als später sein wird.
Was würde ich dafür geben, ihren Namen zu kennen, ihre Stimme zu hören oder einfach nur ihr gegenüber zu stehen. Ob sie auch ein Wandler ist? Vielleicht ist sie sogar ein Mensch. Dann müsste ich besonders sorgsam mit ihr umgehen. Aber auch das würde kein Problem darstellen. Für jedes mögliche Szenario denke ich mir seit Jahren einen Plan aus. Ich bin also gut vorbereitet. Wenn sie ebenfalls ein Wandler ist, dann versteht sie es bereits. Allerdings wird es schwer, sie zu treffen, da wir unser Rudel nur selten verlassen. Vielleicht finde ich sie bei den großen Festen der Stämme. Ein Indiz dafür, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ich sie endlich kennen lernen kann, ist, dass der Wolf in mir immer unruhiger wird. Also entweder ist sie bereits in der Nähe oder es dauert nicht mehr lange, bis wir aufeinander treffen. Der Wolf will mit ihr spielen, ist bereit, ihre Witterung aufzunehmen und sie zu jagen, um seine Beute stolz mit nach Hause zu bringen.
"Dean, kommst du frühstücken?", ruft mir meine Mutter ein paar hundert Meter entfernt zu. Also beginne ich schnell zu laufen und bin augenblicklich an unserem Haus, in dessen Tür noch immer meine Mum steht. "Ich habe dich dreimal gerufen. Wo bist du nur immer mit deinen Gedanken?", möchte sie wissen und wuschelt mir durch die Haare, was von außen betrachtet sehr komisch aussehen muss, da ich größer bin als sie und sie sich so strecken muss, um meinen Kopf zu erreichen.
"Bei ihr. Immer bei ihr.", antworte ich verträumt und ziehe mir das dunkelblaue T-Shirt über, das sie mir reicht. Um diese Uhrzeit und zu dieser Jahreszeit sind es vielleicht nur vier Grad, aber das ist einer der Vorteile, ein Wandler zu sein. Unsere Körper sind wandelnde Sonnen.

Als ich das Innere unseres Hauses betrete, nehme ich mir das Handtuch und trockne mir den Tau von den nackten Fußsohlen, als auch schon der kleine braune Welpe an meiner Jeans auf meinen Schoß klettert. Daisy, meine kleine Nichte, versucht es sich gemütlich zu machen, doch ich hebe sie an meine Brust und gehe gemeinsam mit ihr in das Esszimmer und übergebe sie ihrer Mutter, meiner Schwägerin, wo sich das kleine Fellknäuel wieder in ihr einjähriges menschliches Wesen verwandelt.
Als alle am Tisch sitzen, meine Mum an der Stirnseite, so wie es sich für das Familienoberhaupt gehört, beginnen wir zu essen und besprechen, was den Tag über erledigt werden soll. Mein Dad und ich werden uns um das Restaurant kümmern und dort die Aufgaben delegieren. Mein älterer Bruder wird sich gemeinsam mit meiner Mutter um die Rudelangelegenheiten kümmern, während seine Frau die Kinder in unserer eigenen Grundschule unterrichtet. Meine Großeltern haben keine weiteren Pflichten innerhalb des Rudels zu erledigen.
"Dean, wenn du nachher in der Stadt bist, hol doch bitte die Stoffe für Melissas Kleid ab.", bittet mich meine Mutter und ich setze einen neuen Punkt auf meine gedankliche To-Do-Liste. Melissa ist meine Cousine und wird demnächst die Verbindung zu ihrem Gefährten in einer traditionellen Zeremonie besiegeln. Ich freue mich schon, wenn es bei mir endlich soweit ist.
Während einer Hochzeit gibt es bei uns immer viel zu tun. Andere Rudel reisen an und brauchen Unterkünfte. Außerdem ist die Sicherheit ein schwieriges Thema. Ich befinde mich noch in der Wächterausbildung, doch die wird erst nach der Zeremonie weitergeführt, weil mein Dad Hilfe braucht und auch hier und da einige Aufgaben anfallen werden, die erledigt werden müssen.
Wir leben hauptsächlich autark, doch wenn auf unserem Land mehrere Rudel unterkommen, ist die Energiebereitstellung und Nahrungsversorgung eine logistische Baustelle. Es bedeutet aber nicht nur Stress. Nach und nach werden alle anreisen und ich werde viele meiner Freunde wiedersehen, die sich unter anderem im Laufe der Zeit anderen Rudeln angeschlossen haben, weil sie dort ihre Gefährten gefunden haben. Andere wiederum sind zu guten Freunden geworden, weil unsere Familie eng zusammen arbeiten und wir uns mehrmals im Jahr besuchen. Hauptsächlich geht es dabei um politische Angelegenheit, doch ich bin froh, dass meine Mum und mein Bruder diese Verantwortung tragen und ich ein bisschen freier sein kann, was meine Freizeit und alltäglichen Tätigkeiten anbelangt.

Nach dem Frühstück spiele ich noch ein bisschen mit Daisy. Sie kann ihre Verwandlungen noch nicht kontrollieren, aber Babys bevorzugen meist die Welpengestalt, da sie dann unabhängiger sein können. Gerade kaut sie an meinen Fingern, doch es tut nicht wirklich weh. Ich spiele gerne mit ihr. Im Augenblick gibt es nicht besonders viele Welpen in unserem Rudel, doch sobald alle zur Zeremonie anreisen, wird auch sie wieder mehr Spielkameraden haben.
"Dean, kommst du? Wir müssen in den Laden. Der Lieferant kommt in einer halben Stunde.", bemerkt mein Dad und steckt den Kopf ins Wohnzimmer. Ich greife mir Daisy, nehme sie auf den Arm und gehe auf meinen Dad zu. "Hast du Luke gesehen?", frage ich ihn und mein Vater deutet auf die Küche, wo ich auch meinen Bruder und Ahyoka finde. Den beiden überreiche ich ihre Tochter und gehe dann wieder in den Flur, wo Dad schon auf mich wartet. Bevor wir aber das Haus verlassen, ziehe ich mir meine Boots und mein dunkelblaues Flanellhemd über.
"So, wir können.", teile ich Dad mit und wir machen uns auf den Weg zu unserem Jeep. Da wir etwas abseits und mitten im Wald leben, brauchen wir auch geeignete Autos. Der Boden ist zu dieser Jahreszeit oft schlammig und es gibt hier viele steile Wege.

Die Fahrt in die Stadt dauert ungefähr zwanzig Minuten. Es würde mich nicht stören, wenn wir auf dem Berg bleiben würden. Hier ist es still und die Natur noch unberührt. Wir versorgen uns selbst, doch manchmal ist es nötig, dass wir andere Dinge brauchen, die wir nicht selbst produzieren können und dafür braucht man Geld. Also haben wir uns unter anderem das Restaurant als eine sichere Einnahmequelle angeschaffte, neben dem Verkauf von Holz und handgemachten Produkten. Viele von uns können Dinge aus Materialien herstellen, die die Natur zu bieten hat und die meisten Menschen nicht mehr im Stande sind dieses Handwerk zu beherrschen. In die Stadt zu fahren, heißt außerdem, uns zu verstecken. Hier können wir nicht so sein, wie wir von der Natur geschaffen wurden. Aber das ist schon okay, denn mit der Zeit haben wir uns hier gut integriert und Freundschaften mit den Bewohnern geschlossen. Das alles geschah schon vor meiner Geburt. Meine Großeltern kennen noch die Zeit, da wurden sie komisch angeschaut, weil sie oben in den Bergen wohnen. Aber die Gesellschaft hat sich verändert und ist jetzt offener.

"Was steht heute an?", möchte ich von meinem Dad wissen und wende meinen Blick von dem Fenster ab und schaue zu einer älteren Version von mir. Wenn jemand wissen möchte, wie ich in dreißig Jahren aussehe, dann muss man sich nur meinen Vater anschauen. Wir haben beide dunkelbraune Haare und grünbraune Augen. Selbst in unseren Gesichtszügen ähneln wir uns. Mein Bruder Luke hingegen kommt ganz nach unserer Mutter, mit seinen rotbraunen Haaren und den grünen Augen. Nicht zu vergessen die blasse Haut.
"Die Waren müssen eingeräumt werden. Wir müssen uns überlegen, was nächste Woche alles das Tagesangebot sein soll und dann können wir schon ein paar Sachen in der Küche vorbereiten. Gemüse schneiden und so weiter. Wenn das erledigt ist, kannst du die Stoffe für deine Mutter abholen und ihr bringen. Ich brauch dich dann erst Abends wieder als Springer.", erklärt mir Dad den Plan für heute. In unserem kleinen Lokal arbeiten sonst noch weitere Mitglieder des Rudels, doch die kommen immer erst später. Vormittags bin ich meistens mit Dad alleine und bereite Dinge vor oder helfe im Büro bei organisatorischen Angelegenheiten.
Da ich nun meine Aufgaben für heute kenne, kann ich mich entspannt zurück lehnen und genieße die Stille der restlichen Fahrt ins Restaurant. Dank meines guten Gehörs und nach Jahre langer Übung, kann ich die Geräusche des Autos ausblenden und mich auf die schöneren Melodien in der Ferne des Waldes konzentrieren. Wie sich die Bäume im Wind hin und her wiegen und ihr Holz dabei laute knackende Geräusche von sich gibt, die sich im gesamten Territorium ausbreiten. Selbst der Geruch von feuchtem Holz und nasser Erde dringt durch die Scheibe des Autos und ich lasse ein wenig das Fenster runter, um den Duft intensiver zu spüren. Das ist der Geruch und die Melodie meines Zuhauses, die mir ein Gefühl verschaffen, was sonst nur meine Familie zu Stande bringt. Ich fühle Sicherheit und Vertrautheit. Nichts ist schöner als eine Nacht unter freiem Himmel zu verbringen und einzuschlafen während man die Sterne zählt. Das Nachtlied gesungen von den Vögeln und zugedeckt von den Göttern des Waldes. Kein Schmerz, kein Leid und keine Sorgen. Nur Frieden und Glückseligkeit. Bald kann ich wieder unter freiem Himmel schlafen, wenn der Frühling zum Sommer wird und die Sonne länger scheint als der Mond.

MoonkissWhere stories live. Discover now