2 | Milena

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Did You Hear the Rain? - George Ezra

Hier könnte es mir tatsächlich gefallen. Es ist ruhig und in der Natur. Im Winter wird es Schnee geben und im Sommer ist es warm aber nicht heiß. Eine Kleinstadt ist zwar ungewohnt, aber auch überraschend schön. Ich könnte von vorn beginnen. Niemand kennt mich und alles scheint möglich zu sein.
Ich versuche nicht, all zu sehr in der Vergangenheit zu leben. Das raubt mir oft genug den Schlaf. Aber hier könnte sich mein ganzer Ballast in Luft auflösen.
Seit einer Woche bin ich nun in der Stadt. Viel gesehen habe ich leider noch nicht. Ich habe mich um meine kleine Wohnung gekümmert und dafür gesorgt, dass es zumindest annähernd einem Zuhause gleicht. Viel Geld wollte und konnte ich dafür nicht ausgeben, also habe ich mich an einfache Dinge gehalten. In einer Zweiraumwohnung ist sowieso nicht viel Platz. Aber für mich alleine ist es mehr als ausreichend. Mit mehr wäre ich überfordert gewesen. In den vergangenen zwei Jahren habe ich mir meist ein Zimmer geteilt. In Pflegefamilien ist oft nicht viel Platz. Also ist das hier schon purer Luxus. Mein eigenes kleines Reich. Ganz alleine, nur für mich.
Die restliche Zeit, die ich nicht mit meiner Wohnung oder irgendwelchen rechtlichen Dingen verbracht habe, war ich im Pflegeheim bei meiner Grandma. Meine letzte lebende Verwandte. Ich kenne sie kaum, aber das soll sich nun ändern. Bis zu dem Tod meines Dads vor zwei Jahren habe ich sie kurz ein- oder zweimal im Jahr gesehen. An Weihnachten oder zu ihrem Geburtstag. Das letzte Mal habe ich sie auf der Beerdigung ihres Schwiegersohns gesehen. Sie hätte mich gerne zu sich genommen, doch sie hat Alzheimer im zweiten Stadium. Die meiste Zeit ist sie dadurch nicht eingeschränkt, aber man wollte einer Sechzehnjährigen nicht dieser Verantwortung überlassen. Also war ich die letzten zwei Jahre ein Teil des Systems. Aber zu meinem achtzehnten Geburtstag, habe ich Zugang zu meinem kleinen Erbe erhalten, das mir mein Vater hinterlassen hat. Davon habe ich mir unter anderem diese kleine Wohnung angemietet. Das Geld reicht noch für ein paar Monate, aber ich möchte nicht alles ausgeben. Ich werde mir einen kleinen Job suchen und in der Nähe meiner Grandma bleiben. Wir haben uns in der vergangenen Woche viel erzählt. Ich habe sie richtig kennengelernt und sie hat mir Geschichten über meine Mum verraten, aus ihrer Jugendzeit oder wie sie meinen Dad kennengelernt hat. Ich kenne sie nur von Fotos, doch durch diese Geschichten habe ich mich ihr etwas verbunden gefühlt.

Im Augenblick bin ich auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für Grams, wie ich sie nennen soll. Etwas kleines und vielleicht auch nicht so teuer. Sie hat in ein paar Tagen Geburtstag und ich will ihr nicht nur Pralinen schenken. Es gibt hier viele kleine niedliche Läden in denen ich bestimmt fündig werde. Der Antiquitätenladen auf der anderen Straßenseite sieht eigentlich ganz einladend aus. Schnell laufe ich über die wenig befahrenen Straße, die vom Regen vergangene Nacht noch ganz nass ist und öffne die rote Holztür. Ein kleines Glöckchen über der Tür kündigt mein Eintreten an und mir kommt sofort der Geruch von alten Möbeln und Büchern in die Nase.
"Guten Tag", begrüßt mich ein älterer Herr in einem dunkelgrünen Pullunder und lächelt mir herzlich entgegen. Ich grüße ebenso freundlich zurück und lasse kurz meinen Blick durch den kleinen Laden schweifen.
"Suchen Sie etwas Bestimmtes oder wollen Sie sich erst einmal umschauen?", fragt er interessiert. Seine grauen Haare sind gepflegt zurück gekämmt und an der Stirn schon etwas licht.
"Ja, ich suche ein Geburtstagsgeschenk für meine Grandma. Nichts Großes oder Auffälliges. Nur eine Kleinigkeit, aber eben etwas Besonderes", antworte ich und gehe auf den Mann hinter dem kleinen Tresen zu.
"Ich hätte ein paar gebrauchte Bücher in Schmuckausgaben", schlägt er vor und deutet auf ein Regal rechts von sich, doch ich schüttel den Kopf. Grams hat nicht besonders viele Bücher in ihrem Zimmer. Ich bin mir nicht Mal sicher, ob sie überhaupt noch liest, bis auf die Seitenzahlen in ihren Rätselheften.
"Oder wie wäre es mit einer wunderschönen Vase? Dann brauchen Sie nur noch die Blumen." Der Mann scheint wirklich motiviert, doch auch diesen Vorschlag muss ich ablehnen. Er sieht kurz enttäuscht aus, doch dann erhellt sich seine Miene. "Ich glaube ich weiß, was Ihnen und Ihrer Großmutter gefallen könnte. Kommen Sie mal mit!" Er tritt hinter seiner Kasse hervor und ich folge ihm durch den kleinen gemütlich Laden. Hier gibt es wirklich alles. Von Stühlen bis hin zu kleinen schrecklichen Deko Figuren aus Porzellan. Der Laden wirkt von der Straße aus sehr klein, doch wenn man ihn betritt erstreckt sich der Raum in die Tiefe und man erkennt einen Durchgang, der zu einem weiteren Raum führen muss. Nur das gedimmte gemütliche Licht und die engen Gänge, lassen den Raum in ihrer Größe schrumpfen.
"Wie wäre es denn damit?" Er deutet auf einen kleinen Karton mit Schallplatten. "Nur Klassiker", fügt er noch stolz hinzu und mir fällt zum ersten Mal die schmale drahtige Brille an seinem Kragen auf. Das könnte wirklich funktionieren! In dem Pflegeheim gibt es auch einen Plattenspieler und bei Gelegenheit könnte ich Grams auch einen eigenen besorgen.
"Danke, das ist super!", antworte ich freudestrahlend und schaue mir die ersten Platten an.
"Okay, dann lasse ich Sie mal in Ruhe schauen. Die sind übrigens nach Jahrzehnten sortiert. Falls Sie noch etwas brauchen oder sich eine von ihnen anhören wollen, dann trauen Sie sich ruhig zu fragen."
Ich bedanke mich noch mal und mache mich dann dran, etwas Geeignetes zu finden. Am besten aus der Zeit, als Grams Teenager war. Die Auswahl ist beschränkt, doch selbst ich kenne einige der Künstler.

Manchmal ist es ungewohnt für mich, wenn ich so viel Freundlichkeit wie eben erfahre. Es kommt mir oft sogar befremdlich vor, doch so ist das vermutlich in einer Kleinstadt. Ganz dem Klischee entsprechend. Mit ein bisschen Zeit werde ich mich damit schon anfreunden. Ich bin dem ganzen nämlich noch sehr misstrauisch gesinnt. Vertrauen fällt mir schwer und ich habe Angst, Menschen zu nahe zu kommen. Denn jeder, der mir etwas bedeutet hat, ist jetzt tot oder hat mich verlassen. Ich habe nie so etwas wie Beständigkeit gehabt. Schon gar nicht in den vergangenen zwei Jahren. Ich war in drei Pflegefamilien. Dass das System schlecht ist, weiß jeder, doch entkommen kann man ihm auch nicht und ich hatte noch relativ Glück, was die Familien angeht, in denen ich untergekommen bin. Alle waren überwiegend nett, doch man war nirgends so richtig zu Hause. Deswegen finde ich den Begriff Pflegefamilie auch nicht passend. Eine Familie sind Menschen und ein Ort der Geborgenheit und Sicherheit. Mein Dad hat mir dieses Gefühl vermittelt. Er hat alles dafür getan, dass ich nicht nur einen Vater sondern auch eine Mutter habe. Zwei Rollen zu übernehmen war nicht leicht. Leider ist mir das zu spät bewusst geworden. Auf meinem Weg zum Erwachsenwerden war mein Kopf zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als dass ich hätte schätzen können, wie wertvoll mein Dad für mich ist und was für ein Glück ich habe, ihn als Dad zu haben.
Ich habe viele Geschichten von den anderen Kindern gehört, was sie alles erlebt haben. Deshalb weiß ich auch, dass ich mich nicht beschweren darf. Aber jetzt bin ich raus. Bin hier und kann komplett neu starten. Vielleicht ist diese Stadt nicht die letzte auf meinem Ziel, aber es ist ein guter Anfang. Ich werde mir einen Job suchen, meine Grams jeden Tag besuchen, wahrscheinlich auch Freunde finden und versuchen, glücklich zu sein.

MoonkissWhere stories live. Discover now