6 | Milena

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West Coast - Lana Del Rey

Ich werde mir wohl ein Fahrrad besorgen. Für ein Auto reicht das Geld nicht, die Stadt ist nicht sehr groß, also wäre zu Fuß auch alles Wichtige zu erreichen, doch mit dem Fahrrad würde es wesentlich schneller gehen. Auf den Bus ist kein Verlass, der kommt nur einmal die Stunde und selbst das ist nicht garantiert. Das habe ich vor einigen Tagen herausgefunden als es in Strömen geregnet hat und ich Grams besuchen wollte. Ich habe eine halbe Stunde an der Haltestelle die Straße runter gewartet, doch nirgends war ein Bus in Sicht. Das Ende der Geschichte war, dass ich mir einen Regenschirm aus der Wohnung geholt habe und dennoch klatschnass und durchgefroren bei meiner Grandma angekommen bin und auch noch spät dran war.
Meine Ersparnisse reichen bestimmt noch für vier Monate, wenn ich gut haushalte vielleicht auch noch einen Monat länger, doch ich möchte nicht das gesamte kleine Erbe auf den Kopf hauen. Außerdem brauche ich einen Job, denn Nichtstun kommt nicht in Frage. Also bin ich gerade auf dem Weg zu dem Restaurant, das mir Dean gestern beschrieben hat. Er klang ziemlich zuversichtlich, dass ich den Job bekomme, doch ich bin mir da nicht so sicher. Mein High School Abschluss ist eher mittelmäßig und sonst habe ich nichts vorzuweisen. Gekellnert habe ich in den Sommerferien immer im Diner drei Straßen von meinem ehemaligen Zuhause entfernt. Das muss also an Erfahrungen ausreichen.

Okay, hier muss es sein. Von außen sieht es sehr einladend aus. Dunkelgrüne Details, goldene Lettern und bronzefarbene Highlights. Dieses Restaurant passt perfekt in diese Straße. Es versprüht ein gewisses Flair und da es heute bewölkt und grau ist, verspüre ich umso mehr den Drang mich ins Warme zu begeben. Als ich den Laden betrete, erklingt auch hier ein kleines Glöckchen, das mein Eintreten ankündigt. In jedem Laden, den ich in dieser Stadt bisher betreten habe, gibt es so etwas. Es lässt mich Schmunzeln, da es genau das ist, was ich mir von einer Kleinstadt vorgestellt habe. Kleine Glöckchen über der Ladentür, Straßen mit Geschäften, die sich aneinander anpassen und natürlich die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit der Bewohner.
Im Inneren sieht es so aus, wie man es sich von außen vorstellt. Dunkle Holzmöbel, der Duft von hausgemachtem Essen und gedimmtes Licht. Es sieht sehr gemütlich und modern eingerichtet aus. An der linken Wand befindet sich ein aus schwerem dunklen Holz gefertigter Tresen mit Regalen voller teurem Alkohol. Gleich am Eingang rechts von mir, gibt es einen kleinen Empfangsbereich mit Garderobe.

“Kann ich Ihnen helfen?“ Ein Mann, vielleicht Anfang fünfzig, schaut mich mit seinen braunen Augen neugierig an.
“Ähm, ja. Ich habe gehört, dass hier eine Stelle frei ist. Ich habe nicht viel vorzuweisen, aber ich habe früher schon mal als Kellnerin gearbeitet“, erkläre ich meinen Besuch und lege sogleich alle Karten auf den Tisch. Ich will mir keine Hoffnungen machen, die am Ende wieder zerstört werden. Hoffnung ist ein Luxus den ich schon lange verloren habe. Realität ist das Einzige, worauf ich mich verlassen kann.
“Ah, mein Sohn hat bereits erwähnt, dass du vorbei kommen willst. Ich bin übrigens Sam, wir duzen uns hier alle. Manchmal geht es in der Küche ziemlich rau zu, da bleibt keine Zeit für Höflichkeiten. Außerdem sind die meisten miteinander verwandt, wir sind sozusagen ein Familienbetrieb.“ Der Mann schaut mich lächelnd und zugleich stolz an und reicht mir seine Hand, die ich sofort annehme. Ein bisschen verwirrt bin ich allerdings. Mit so viel Offenheit habe ich nicht gerechnet.
“Entschuldigen Sie- Entschuldige Sam, aber dein Sohn?“, frage ich verwundert nach.
“Dean“, klärt er mich auf und jetzt wird mir auch die Ähnlichkeit bewusst. Die gleichen Augen, selbst dir Haare und auch die Gesichtszüge. Vor mir steht eine ältere Version von Dean.
Es irritiert mich allerdings, dass Dean über mich gesprochen hat. Wir kennen uns nicht und sind uns bloß einmal begegnet. Vielleicht sollte ich nicht immer so misstrauisch und stattdessen dankbar sein. Dank Dean habe ich jetzt offenbar einen Job.
“Na komm, ich zeig dir alles. In der Küche wird bereits gearbeitet, bevor in einer Stunde die ersten Gäste kommen. Bald müsste auch River da sein, sie wird dich einarbeiten. Bezahlung gibt es am Monatsende. Wenn es irgendwelche Probleme gibt, dann kannst du jederzeit zu mir kommen.“ Sam deutet auf eine dunkelbraune hölzerne Tür, hinter der sich vermutlich sein Büro befindet.
Nachdem ich alle wichtigen Infos erhalten habe, werde ich durch das Restaurant geführt. Ich werde den ersten Kollegen aus der Küche vorgestellt, bekomme den Pausenraum gezeigt und werde bereits in das Tischsystem eingewiesen.
Als ich meine Arbeitskleidung erhalte, eine dunkelblaue Bluse und eine schwarze Hose, gesellt sich ein Mädchen mit schwarzen langen Haaren zu uns.
“River, das ist Milena. Milena, das ist River. Es wäre schön, wenn du sie einarbeiten könntest.“
Sam verliert nach der kurzen Vorstellung noch ein paar nette Worte, bevor er mich mit River allein lässt.
Das Arbeitsklima scheint hier sehr locker zu sein. Alle gehen freundschaftlich und familiär miteinander um. Aber wenn das hier ein Familienbetrieb ist; was mache ich dann hier?

“Also Milena, ich habe gehört, du bist neu in der Stadt.“ River schaut mich mit ihren blauen Augen und einem Lächeln neugierig an. Scheint, als würde man tatsächlich über mich sprechen. Ob das auch so ein Kleinstadtding ist?
“Ja, seit einer Woche bin ich hier“, antworte ich freundlich und schaue mich nervös um. Hoffentlich lässt diese Überforderung irgendwann nach. Dass Menschen immer so nett sind, bin ich nicht gewohnt. Es scheint, als wäre ich in einer vollkommen neuen Welt.
“Okay, also Sam hat dir offensichtlich schon alles erzählt. Dann werde ich dich heute ein bisschen einarbeiten. Ich denke du wirst erstmal nur Bestellungen aufnehmen und servieren. Getränke kannst du auch übernehmen, bis auf den Alkohol. Da fragst du am besten nach einem der älteren. Aber sonst kannst du im Prinzip alles machen bis auf kassieren. Wenn ein Kunde bezahlen möchte, gibst du mir oder einen der anderen Bescheid. Wenn Sam meint, dass du deine Arbeit gut machst, werde ich dich in das Bezahlsystem einweisen. Hast du schon Erfahrungen im Gastronomiebereich?“ Sie streicht sich eine Haarsträhne hinter die Ohren und erst jetzt fällt mir auf, was für lange Haare sie hat. Schwarze Wellen gleiten sanft bis zu ihren Hüften. Ja, der Name River passt perfekt zu ihr. Wie ein schwarzer Fluss, wird ihr Oberkörper von den sanften Wellen eingehüllt. Ihre blasse Haut und die blauen Augen lassen sie wie ein Fabelwesen aussehen. Sie ist wunderschön.
“In den Sommerferien habe ich früher immer in einem kleinen Diner gearbeitet. Ich kann servieren, müsste es aber erstmal noch üben, da es schon zwei Jahre her ist“, antworte ich und kann meinen Blick nicht von ihrem Gesicht abwenden. Sie sieht tatsächlich wie eine Elfe aus.
“Das klingt doch super! Hast du heute Zeit? Dann können wir gleich beginnen“, möchte sie wissen und strahlt mich mit ihrem Lächeln an. Ihre ganze Aura scheint zu strahlen und ich kann mir nicht erklären, warum mich das fasziniert.
Da ich bereits bei Grams war und sonst keine weiteren Verpflichtungen habe, sollte das kein Problem sein. Arbeiten ist besser als in meiner Wohnung alleine herumzusitzen, denn dann denke ich nach und wenn ich nachdenke, werde ich traurig.
“Ich habe nichts vor“, antworte ich und lächle. Scheint, als wäre heute mein erster Arbeitstag.

Nachdem River und ich unsere Arbeitskleidung angezogen haben, hat sie mir das digitale Bestellsystem gezeigt und ich konnte noch ein wenig Teller tragen üben. Einmal gelernt ist eben gelernt. Alles klappt noch ganz gut. Auch ein Tablett mit Gläsern kann ich balancieren, ohne dass etwas zu Bruch geht.
Als dann die ersten Gäste erscheinen, schaue ich River über die Schulter, bis ich übernehme und sie mir bei kleinen Fragen zur Seite steht. Ich bin überrascht, dass alles so glatt läuft. Nicht nur das Kellnern, sondern auch die Sache mit dem Job. Es ist bestimmt nicht normal, dass man so schnell irgendwo angestellt ist und arbeiten kann. Aber da spricht wieder das Misstrauen in mir. Ich bin es einfach nicht mehr gewohnt, dass etwas in meinem Leben glatt läuft.

MoonkissWhere stories live. Discover now