20.Kapitel

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Ich wälzte mich in meinem Bett herum. Ich konnte nicht schlafen. Malena und Cara dagegen taten das schon längst. Vorhin hatte ich mir das Video fertig angeschaut. Zu meinem Entsetzen war nicht nur der Vorfall vom Schlittschuhlaufen zu sehen, sondern es gab danach auch noch weitere kurze Sequenzen, die alle hauptsächlich in der Schule aufgenommen wurden. Und das heimlich, zumindest hatte ich das nie mitbekommen.

Sie zeigten mich, während die Jungs ihre Aktionen gegen mich ausführten. Das tat mir besonders weh. Mich dabei selbst zu sehen und zu wissen, dass das auch mindestens die ganze Jahrgangsstufe auf Video hatte, zerfraß mich. Ich konnte nicht mehr. Schon seit Stunden versuchte ich, meine Schluchzer zu unterdrücken und meine Tränen zu stoppen, aber ich scheiterte kläglich.

Schließlich stand ich auf, um ins Bad zu gehen. Ich brauchte kurz Ruhe, Abstand. Sobald ich es auf Zehenspitzen betrat, leise die Tür schloss und das Licht anmachte, stelte ich fest, dass das Bad kein guter Ort war. Wie versteinert blieb ich stehen und ich rang nach Luft. Sofort sprang mir die Malenas Nagelschere, die auf dem Waschbecken lag, ins Auge. Am Tag davor hatte ich mir noch gedacht, wie unnötig es von Malena war, die Schere wegen ein paar Tagen mitzunehmen, aber diese Nacht war ich dankbar dafür. Wie in Trance nahm ich sie, ohne weiter darüber nachzudenken, und starrte sie an. Langsam führte ich sie an meine nackte Haut vom Oberschenkel. Zu meinem Glück, oder auch Pech, je nachdem, wie man es betrachtete, hatte ich zum Schlafen eine kurze Hose angezogen. Es war also leicht für mich, mit der Schere gleich an die richtige Stelle heran zu kommen. Ich musste irgendwie den Druck abbauen, der sich in den letzten Stunden in mir angestaut hatte. Und das war die erstbeste Methode. Ich war verzweifelt. Ich schaffte es einfach so nicht mehr. Ich brauchte das, auch wenn es mir nur kurzfristig half. Langfristig wollte ich das nicht mehr erleben. Ich wollte keine Angst mehr haben, in die Schule gehen. Ich wollte mich bei den Menschen, die mir so wichtig waren, nicht mehr nur geduldet fühlen. Ich wollte nicht mehr ich sein. Ich wollte ein ganz normales Mädchen sein.

Mit diesen Worten setzte ich die Schere ganz oben an meinem Oberschenkel an und atmete tief durch. Tränen liefen mir ununterbrochen die Wangen hinunter. Die ganze Jahrgangsstufe hatte das Video gesehen. Ich wollte all diesen Menschen nie mehr über den Weg laufen, so sehr schämte ich mich dafür. Ich drückte die Schere in meine Haut. Ich war eine Versagerin. Ich war zu dumm für alles. Zu dumm, um mich zu wehren. Zu dumm zum Sprechen. Zu dumm zum normal sein. Langsam zog ich mit der Schere und erhöhtem Druck eine Linie auf meinem Oberschenkel. Der Schmerz war befreiend. Ich wollte nicht wissen, wie viele Videos es noch von mir gab, von denen ich nichts wusste. Ich fing an zu zittern. Was machte mein Leben überhaupt noch für einen Sinn? Warum nahm nicht endlich alles ein Ende? Hatte ich nicht schon genug gelitten? Ich fing an zu zittern und konnte mein Schluchzen kaum noch unterdrücken. Die Schere hielt ich in meiner verkrampften Hand und hob sie von meiner Haut ab. Leicht rot war die Stelle, an der sie sich gerade noch befand. Markus und Malena hatten jemand besseren als ich verdient, genauso wie meine Eltern. Ich fing unkontrolliert an zu weinen. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Mit viel Druck zog ich mit der Schere eine weitere Linie. Noch eine. Und noch eine. Immer so weiter. Ich wurde immer schneller und schonungsloser. Wie sehr mir der Schmerz gut tat. Ich setzte zu einer weiteren Linie an, schaute dabei auf meinen Oberschenkel, der voller geröteter Linien war und realisierte erst jetzt, was ich da gerade getan hatte. Ich brach zusammen. Klirrend landete die Schere auf den Boden landete. Ich knallte dumpf auf die kalten Fliesen. Was hatte ich nur getan? Ich war so unfassbar dumm. Wieder fing ich an, stärker zu zittern und ließ meinen Tränen freien Lauf.

Warum hatte ich nur so überreagiert? Es war doch nur ein Video, auf dem ich zu sehen war, mehr nicht. So schlimm war das nun wirklich nicht. Ich umschlang meine Beine mit den Armen und legte verzweifelt meinen Kopf darauf ab. Die Wunde brannte. Ich merkte, wie sie anfing zu bluten, doch das war mir egal. Ich hatte so unfassbar viel Angst vor morgen. Ich wollte jetzt nur noch schlafen und nicht mehr aufwachen. Ich wollte Lienchen schreiben. Kurz hielt ich inne. Dieser Gedanke kam so plötzlich, dass ich mich selbst darüber wunderte. Wie kam ich jetzt auf sie? Mir war bewusst, dass ich es nicht geschafft hätte, ihr zu schreiben, da es erstens viel zu spät war und zweitens wir seit ein paar Tagen nicht mehr miteinander geschrieben hatten und ich nicht wollte, dass es so rüberkam, als ob ich mich bei ihr nur wegen Problemen meldete. Aber sie war der einzige Mensch, bei dem ich wusste, dass sie mich genau so akzeptierte und mochte, wie ich war und das war etwas Besonderes. Sie war etwas Besonderes. Schon, wenn ich nur an sie dachte, ging es mir ein kleines bisschen besser.

Mehr als nur extrem schüchtern | ✓Where stories live. Discover now