8.Kapitel

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Am Abend wurde es immer schneller dunkel und am Morgen langsamer hell. Im November war das kein Wunder. Bald fing auch die Weihnachtszeit wieder an.
Der kalte Wind blies mir ins Gesicht und ich lief alleine zum Eingang des Schulgebäudes. Malena war krank zu Hause geblieben. Sie hatte in der Nacht Bauchschmerzen bekommen.
Ich war es mittlerweile nicht mehr gewohnt, die Schule ohne Begleitung zu betreten, was in den letzten Schuljahren fast schon zur Normalität geworden war. Ich fühlte mich unsicherer als sonst, als ich die schwere Tür mit viel Kraftaufwand öffnete und mir warme Luft entgegen kam. Die Stimmen der verschiedenen Schüler verschmolzen zu einem unverständlichen Gebrumme und die Gänge waren voller Menschen, die mich kaum beachteten. 

Auf dem Weg in mein Klassenzimmer versuchte ich unbewusst, Markus in der Menschenmenge zu entdecken. In letzter Zeit hatten wir oft etwas gemeinsam unternommen. Ein kleines Lächeln eroberte meine Lippen, als ich an die ganzen Tage dachte, die wir miteinander verbracht hatten. Hätte man mir vor einem Jahr erzählt, dass Markus auch nur einmal etwas freiwillig mit mir unternehmen würde, hätte ich demjenigen sofort einen Vogel gezeigt, wenn ich mich das überhaupt getraut hätte. Eher hätte das dann wohl in meinen Gedanken stattgefunden. Es war genauso wie die Tatsache, dass ich Malena eine Freundin nennen konnte. Ich war immer noch überwältigt von meinem unfassbar großem Glück, das ich eigentlich gar nicht verdient hatte. Wir hatten uns in letzter Zeit fast jeden Tag, meistens über unsere Fenster, unterhalten. Bei den Gesprächen wurde ich von Mal zu Mal sicherer. Auch der Kontakt zu Malena und Cara war immer enger geworden. Caras beiden Freundinnen, Grace und Amelia, hatten in letzter Zeit mehr ohne sie gemacht, obwohl sie sonst eigentlich immer bei ihnen war. Während Malena und Cara zusammen etwas unternahmen, war Markus oft bei mir. Schon komisch, wie eine einzige Neue in der Klasse die ganze Situation so veränderte.
Eines war aber trotzdem gleich geblieben: Leon, Theo, Oliver und Luca hatten sich immer noch nicht von mir abgelassen. Vor ein paar Tagen hatten sie beispielsweise mal wieder meinen Schulranzen versteckt. Markus hatte mir beim Suchen helfen wollen, war dann aber doch mit seinen Freunden mitgegangen, die ihm etwas über ein Tennisspiel erzählen wollten. Den Schulranzen hatte ich schließlich alleine im Keller der Schule gefunden. Mir fielen viele weitere Bosheiten der Jungs ein, aber darüber wollte ich jetzt nicht weiter nachdenken. Stattdessen lief ich weiter zum Klassenzimmer. 

Als ich den Raum betrat, merkte ich gleich, dass etwas nicht stimmte. Die Jungs der letzten Reihe, Luca und seine Freunde, prüften jeden einzelnen Schritt von mir. Das verhieß nichts Gutes. Mit gesenktem Blick hastete ich zu meinem Platz. Ich wollte mich schon erleichtert auf meinen Stuhl setzen, als ich den bunten Kreidestaub bemerkte, der sich über Boden, Tisch und Stuhl verteilt hatte. Zu allem Übel waren letztere auch noch nass. Reglos stand ich davor und hörte das Gelächter von hinten. Scham machte sich in mir breit. Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Ich konnte nicht einfach schnell den Kreidestaub wegwischen. Immerhin war er nass und klebte am Holz.  

Hitze stieg mir ins Gesicht, als ich einen Blick zur Seite wagte. Chloe tuschelte mit Marla über irgendetwas. Beide grinsten hämisch in meine Richtung. Eigentlich sollte ich das schon gewohnt sein, aber das anhaltende Gelächter versetzte mir einen Stich. Sie verspotteten mich, lachten und höhnten. Und die, die es nicht taten, lachten wohl innerlich - denn es kam niemand, der sich auf meine Seite stellte. 

»Na? Das ist doch eine schöne Überraschung oder?«, ertönte Olivers spöttische Stimme, sodass die Aufmerksamkeit gänzlich auf mir lag. Stocksteif stand ich vor meinem Platz und konnte mich nicht setzen. Ich war den Tränen nahe und spürte die Blicke auf mir. Jeden Moment würde Herr Fischer, unser Geschichtslehrer, in das Klassenzimmer kommen. Ich würde es niemals schaffen, all das zu beseitigen - unter den Augen der anderen, die mir dabei zusehen würden, wie ich ihren Dreck beseitigen musste. Schon allein der Gedanke daran verursachte in mir Herzrasen. Nun stiegen mir endgültig Tränen in die Augen, die ich krampfhaft versucht hatte, zurückzuhalten. Sahen sie mich jetzt an? Wie peinlich war das denn? 

Mehr als nur extrem schüchtern | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt