𝟎𝟏|𝐧𝐲𝐤𝐭𝐨𝐬

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K A P I T E L 1

Schon seit ich klein war hatte ich enorme Angst vor der Dunkelheit. Angst vor den Schatten und Gestalten der Nacht. Angst vor dem was ich nicht sehen konnte.

Besonders schlimm wurde diese Angst allerdings, nachdem meine Eltern starben und ich und meine Schwester in ein Waisenheim geschickt wurden. Lilly war fast fünf Jahre älter, weshalb sie in einem anderen Schlafsaal untergekommen ist als ich. Ich war also nicht dabei als die Dunkelheit sie mir weggenommen hat, wie sie auch die anderen Mädchen mitgenommen hat. Ich hatte keine Gelegenheit gehabt, um mich zu verabschieden.

Die Dunkelheit war für uns alle ein Mysterium, doch für mich war es klar, dass auch ich auf der Liste der Opfer stehen müsste. Es lag in der Luft, wie ein bevorstehendes Regenwetter. Es kam mir vor als lief ich mit einer gigantischen Zielscheibe auf dem Rücken herum und warte förmlich nur noch auf den Schuss mit Pfeil und Bogen.

Schatten tanzten an der Zimmerdecke entlang und probten ihr Schattenspiel. Die Decke wurde von meinem Körper gehoben und eine zierliche Gestalt zwängte sich neben mich ins Bett. „Zoe verdammt." zischte ich und schlug sie gegen die Schulter. „Du hast mich fast zu Tode erschreckt." Sie kicherte leise und strich über ihr dickes schwarzes Haar. „Ich wollte nur sichergehen das du noch hier bist." Meinte sie, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt und zuckte mit den Schultern. Ich seufzte. „Ich meine ja nur. Nur noch eine Woche bis zu deinem achtzehnten Geburtstag." Jenny drehte sich in ihrem Bett herum und wandte sich an uns. „Sie hat recht June, alle Mädchen sind bis jetzt an diesem Tag verschwunden, hast du denn gar keine Angst?"

Ich sah zu wie sich weitere Mädchen neugierig zu uns herüberbeugten. „Hört doch auf damit. Summer ist auch vor zwei Monaten achtzehn geworden und ihr geht's fantastisch." Meine nackten Füße berührten den kalten Steinboden und gingen in Richtung Gemeinschaftsbad. „Summer Rodgers ist weder hübsch noch intelligent. Sie kann wahrscheinlich nicht mal Schwarzbrot von Weißbrot unterscheiden." Maulte Zoe fahl.

„Sei nicht so gemein." Rief ich und kämmte mir mein langes hellbraunes Haar. „Was? Ich habe doch recht. Was sollten die Werwölfe schon von so einem Mädchen wie Summer wollen." Hörte ich Zoe sagen und ich zuckte frontal zusammen.

Geschockt steckte ich meinen Kopf durch die Tür. „Werwölfe?" „Aber natürlich June, wer sollte sonst zu so etwas in der Lage sein." Mirandas Antwort kam überraschend, da wir alle dachten sie würde schlafen, dabei hatte sie die ganze Zeit gelauscht. Ihr blasses Gesicht drehte sich für einen Moment in unsere Richtung, bevor sie sich wieder in ihr Kissen kuschelte.

„Das ist eine sehr heftige Anschuldigung Zoe." Sie zuckte nur abwertend mit den Schultern. Ihr schmaler Körper war in ein beiges Nachthemd gesteckt, welches einen schönen Kontrast zu ihrer dunklen Haut wiedergab. „Überleg doch einmal June. Wer könnte mehr an achtzehnjährigen Mädchen profitieren als Werwölfe, die ihre Seelenverwandte in diesem alter treffen können. Wahrscheinlich ziehen sie die armen Gören in ihre Grotten und paaren sich bevor sie Sie in tausend Fetzen zerteilen." Jenny hatte ihre Erzählerstimme aufgelegt und wild mit den Händen gestikuliert. Das Bild meiner Schwester tanzte vor meinem inneren Auge und ich kniff meine Lider zusammen, um die grauenhaften Gedanken loszuwerden.

Ich spürte Hände auf meinen Schultern. „June, wir haben dich alle furchtbar lieb, weshalb wir auch auf keinen Fall wollen das dir das gleiche Schicksal droht wie den anderen. Du hast Familie im Westen, oder? Geh zu ihnen und bring dich in Sicherheit." Flüsterte Zoe und strich mit ihren feinen Fingern über mein Kinn. „Das ist ein drei Tage Fußmarsch."

„Dann solltest du dich besser beeilen, bevor die Wölfe noch auf die Idee kommen dich früher zu holen." Ich biss auf meine Unterlippe und nickte. Auch die anderen Mädchen umschlungen mich und so standen wir für einige Minuten und genossen die seltene Ruhe.

𝐧𝐲𝐤𝐭𝐨𝐬Where stories live. Discover now