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"Hey, Dad?" Rief ich und schloss die knarrende Tür hinter mir. Ich war schon seit einer Woche nicht hier gewesen und da Lilly mir mitgeteilt hatte, dass sie dafür keine Zeit hatte, war ich in meiner Pause schnell quer durch die Stadt gefahren.
Die ganze Zeit hatte ich ein eigenartiges Gefühl im Magen.
"Ich hab was zu essen dabei." Rief ich und blickte ins Wohnzimmer. Es war leer. Nun jedenfalls war Dad nicht da. Denn ich starrte auf einen Haufen leerer Bierdosen und einiger Schnapsflaschen. Ich seufzte.
"Dad?" Rief ich besorgt. Ich wusste nicht wann er das alles getrunken hatte. Doch es musste ein paar Tage gedauert haben. Ich schluckte meine Wut, Trauer und Enttäuschung runter.
Ich hätte wissen müssen, dass es nicht so einfach war. Das er nicht irgendwann einfach aufwachte und nüchtern war. Egal wie gut er noch vor ein paar Tagen drauf gewesen war.
Der Teil in mir, der wusste, wie sein Zustand ausging ließ alles fallen, rannte die Treppe hinauf und betrat sein Schlafzimmer. Es roch nach Schweiß, schalen Bier und  Erbrochenem. Dann hörte ich ihn Würgen. Nichts wirklich neues und doch spürte ich den Ekel in mir hochkommen. Doch ich verdrängte das Gefühl und wappnete mich für den Anblick, den ich gleich sehen würde.
Ich wusste was mich erwartete und blinzelte trotzdem die Tränen weg, als ich die Tür ausdrückte und hineinsah.
Die große Gestalt meines Vater hockte zusammengesackt neben der Toilette. Er war verschwitzt und stank nach Schweiß, Alkohol und Urin. Die Toilette war von oben bis unten mit Erbrochenem beschmiert und selbst der Boden hatte was abbekommen.
Er konnte nicht mal mehr den Kopf heben.
"Harper?" Flüsterte er leise und versuchte mich anzusehen, doch er hatte nicht die Kraft. "Du bist wieder da." Sagte er freudig. Als wäre ich nicht die letzten zwei Jahre jeden Tag da gewesen. Als wäre ich nicht in der gleichen Stadt.
"Ich bin immer hier." Sagte ich kurz. "Du hast mich auch verlassen. Sie alle verlassen mich." Jammerte er, doch ich konnte kein Mitleid für ihn haben. Ich hatte genug. Ich wollte nicht mehr die sein, die ihn aufhob. Doch ich musste es sein. Und ich würde es auch immer tun.
Also ging ich auf ihn zu und griff ihm unter die Arme. "Ihr lasst mich alle alleine." Flüsterte er und begann zu schluchzen. "Nur du warst immer noch da. Und jetzt bist du auch gegangen." Er weinte, doch es klang wie ein Vorwurf. Und ich konnte nicht verhindern das es mich traf.
Doch genauso stark traf mich die Wut. Die Wut auf Mom und auf Lilly. Vor allem auf Lilly.
Ich wollte mich nicht beschweren. Aber ich wollte auch mal die sein, die ihr Leben genoss. Die Tat, was sie wollte. Die Männer bekam, die sie aussuchte. Ich wollte eine große Schwester haben und ich wollte egoistisch genug sein, um sie auszunutzen und mich von ihr immer beschützen lassen. Vor Gott und der Welt. Ich wollte jemanden haben, der sich um mich sorgte. Und sich kümmerte. Der wusste, dass ich alles alleine schaffen konnte aber trotzdem half, damit ich eben nicht alles alleine schaffen musste.
Aber diesen Luxus hatte ich nicht. Würde ich nie haben und das tat mehr weh, als alles andere.
"Jetzt bin ich hier." Sagte ich kurz und half ihm in die Dusche. Ich musste ihn sauber machen und ins Bett bekommen. Dann konnte ich ein wenig sauber machen.
Ich würde Abi anrufen und ein paar Tage frei nehmen. Das musste ich machen. Vielleicht würde Moe für mich ein paar Tage zu Scott fahren? Er konnte ein wenig überwachen. Doch Scott würde auch alleine ein paar Tage klarkommen.
Erstmal würde ich mich um das Chaos hier kümmern. Deswegen war ich ja aus New York wieder hergezogen.
"Geh nicht weg." Flüsterte er als ich das Wasser anschaltete. Er schreckte auf, sackte aber beinahe sofort wieder zusammen und fiel dann in einen leichten Schlaf.
Na toll. Wie sollte ich ihn denn jetzt ins Bett bekommen? Wenn ich ihn, mit seinen nassen Kleidern, hier sitzen lassen würde, dürfte ich mich über eine fette Erkältung nicht wundern.
Nachdem ich ihn grob gereinigt hatte schüttelte ich ihn sanft. "Dad, wach auf! Wir müssen dich ins Bett kriegen aber ohne deine Hilfe schaffe ich das nicht." Ich war überrascht, wie verzweifelt ich klang. Ich hatte vorher nicht geglaubt, dass ich so fühlte. Doch ich war verzweifelt. Verzweifelt genug um gegen die Tränen anzukämpfen, die sich gegen meine Augen drückten.
Dad blinzelte flatternd und versuchte sich etwas aufzurichten. Ich half ihm aus der Dusche und wir schleifen uns ins angrenzende Schlafzimmer. Ich konnte mich eigentlich nicht mehr genau erinnern, wann er zuletzt in einem solchen Zustand war.
Und darüber war ich tatsächlich mehr als froh. Ich wollte mich nicht daran erinnern.
Ich war zwar keine zehn mehr, doch ich wünschte mir trotzdem, dass mein Leben einfacher wäre. Tat das nicht jeder?
Immerhin war das Leben ein langer Prozess aus Wünschen und Sehnsüchten. Und Menschen die kämpfen mussten, würden stärker werden. Auch wenn sich jeder Kampf wie die Hölle anfühlte.
Aber es stimmte eben, was mich nicht umbrachte machte mich stärker. Denn vor zwei Jahren hatte mich jeder seiner Abstürze so schockiert, dass ich beinahe eine Woche kaum selbst klar kam.
Mittlerweile steckte ich es weg. Freute mich über die guten Tage und wappnete mich für die schlechten.
Ich schaffte es ihn aus den nassen Klamotten zu bekommen und einen Schlafanzug, bevor ich ihn in sein Bett verfrachtet, zudeckte und mich neben ihn aufs Bett setzte.
"Lass mich nicht alleine." Flüsterte er verzweifelt, doch er schlief schon längst wieder.
"Ich kann nicht ewig bei dir bleiben, Dad. Ich habe ein eigenes Leben." Flüsterte ich leise, auch wenn ich mich fragte, wann es mal spannend wurde. "Aber heute bin ich da. Heute bleibe ich."
Immerhin war er mein Dad. Er musste doch verstehen, dass ich nicht ewig bei ihm bleiben konnte. Ich wünschte mir alles wäre wie vor fünfzehn Jahren. Es wäre einfacher. Ich wäre noch naiv. Und die Welt wäre noch immer perfekt.

ICECOLD - 1 - Scott KnightWhere stories live. Discover now