Eden

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Die Sonne stand so tief, dass sie unbarmherzig jeden blendete, der es wagte, sich um diese Uhrzeit auf die Straße zu begeben. Sie glitt schräg über den festgetrampelten Schnee und brachte seine graue, dreckige Oberfläche zum Glitzern. Bald würde sie untergehen und die Stadt in eine melancholische Dunkelheit stürzen, die viel zu lange anhalten würde. Doch davon würde sie nichts mitbekommen. Denn Smilla, die gerade durch die Stadt hetzte, mit gesenktem Blick, um den teuflischen Strahlen zu entkommen, würde längst im Eden sein, noch bevor die Sonne unterging. Sie würde die ganze Nacht dort sein. Erst gegen halb sechs Uhr morgens würde sie den Heimweg antreten. Dann würde es zwar immer noch dunkel sein, aber sie würde verschlafen nach Hause trotten, in ihr Bett fallen und erst wieder aufwachen, wenn die Sonne längst schon wieder aufgegangen war.
Der Schnee knirschte laut unter ihren Füßen. Er war hart und fest. Würde man hier fallen, würde man sich genauso ein Bein brechen wie auf dem Asphalt. Also zog sie es vor nicht zu fallen, auch wenn sie so schnell ging, dass sie es durchaus riskierte. Der Boden war zwar über und über mit Rollsplitt gespickt, aber hier und da fand sich immer wieder eine rutschige Stelle und ihre Schuhe waren nicht unbedingt für den Schnee geeignet. Sie waren für das Eden geeignet. Bequem. Sie trug keine Absätze, weil sie den ganzen Abend stehen musste.
Sie hetzte um die Ecke und stand endlich vor der kleinen, unscheinbaren, schwarzen Tür, dem Eingang zum Eden. Die Röhren der Leuchtschrift über dem Eingang waren dunkel und von einer dünnen Schicht aus neuem Eis überzogen. Wenn sie heute Nacht angehen würden, würde das Eis schmelzen. Smilla blieb kurz stehen und sah seufzend zu dem geschwungenen Schriftzug hinauf. Sie hoffte, dass die Leuchtkonstruktion den Winter überstehen würde. Letztes Jahr war es zwischenzeitlich so kalt gewesen, dass das Ding einfach den Geist aufgegeben hatte und sie ein neues hatten bestellen müssen. Und das war teuer. Schließlich musste es extra für sie angefertigt werden. Tobi hatte damals ein riesen Theater gemacht, aber Tobi machte immer ein riesen Theater, wenn es um ungeplante Ausgaben ging. Er war so ein Pfennigfuchser.

Mit dreiundzwanzig hatte er das Eden eröffnet. Der Club hatte vorher einem Bekannten gehört und war pleite gegangen. Tobi hatte ihn kurzentschlossen übernommen und sich eingebildet, ihn zusammen mit einem Kumpel neben dem Studium führen zu können. Informatik hatte er damals studiert. Er hatte bis heute keinen Abschluss und heute war er dreiunddreißig. Sein Kumpel war abgesprungen. Phil hatte der geheißen und lieber weiter Informatik studiert. Tobi hingegen war inmitten des Eden regelrecht aufgeblüht. Er hatte seine Berufung gefunden und den Laden mithilfe einer eisernen Sparpolitik auf Vordermann gebracht. Diesen Sparkurs verfolgte er bis heute und geriet deswegen immer wieder mit Smilla aneinander. Sie hatte ihm schon im Eden ausgeholfen, als sie noch sechzehn gewesen und zur Schule gegangen war. Eigentlich hatte sie keinen Alkohol ausschenken dürfen, aber ihren großen Bruder hatte das nicht interessiert. Der war nämlich nur auf der Suche nach billigen Arbeitskräften gewesen und hatte in ihr ein willkommenes Opfer gefunden. Natürlich hatte er ihr etwas bezahlt. Aber viel war das nicht gewesen. Dafür hatte er ihr stetige und gute Arbeit irgendwann belohnt. Als sie mit der Schule fertig war, hatte er sie zu seiner Partnerin gemacht, hatte ihr so viel Verantwortung übertragen, dass sie fast daran erstickt wäre. Aber sie war damit klargekommen und Tobi hatte ein wenig durchatmen können, hatte wieder ein bisschen Freizeit gehabt. Später hatten sie dann geplant den Laden zu kaufen. Gemeinsam. Sie hatten den Club immer von der Stadt gepachtet. Aber Tobi wollte hoch hinaus. Tobi wollte das Ding besitzen. Also hatten sie wieder sparen müssen. Vor zwei Jahren hatten sie den Kaufvertrag unterschrieben. Wahrscheinlich würden sie die Schulden noch eine Ewigkeit abstottern müssen, aber es fühlte sich gut an, das Eden sein Eigen nennen zu können und nicht mehr nur ein geduldeter Gast in diesen Räumlichkeiten zu sein.

Smilla seufzte schwer und kramte ihren Schlüssel hervor, steckte ihn in das verrostete Schloss. Es knirschte ein wenig. Dann schob sie die schwere Tür auf, zog sie sorgfältig wieder hinter sich zu und ging die geflieste Treppe nach unten, unter die Erde. Vorbei an der Garderobe und der Kasse.
Das Eden war jetzt viel heller als bei Betrieb. Das Licht brannte und tauchte den langgezogenen Raum in einen gelblichen, unangenehm künstlichen Schimmer. Man sah jeden Fleck, jede verranzte Stelle auf dem Fußboden oder an den Wänden. Doch von den Gästen würde das niemand bemerken. Denn nachts wurde der Laden ganz anders beleuchtet. Das Deckenlicht war dann aus. Es war ziemlich dunkel, die Tanzfläche wurde durch verschiedene Strahler beleuchtet, die aber nicht besonders viel Helligkeit spendeten. In den Sitzecken gab es zwar kleine Lampen an der Wand mit staubigen Schirmen, aber auch die tauchten die Szenerie nur in ein schummriges, angenehmes Licht, das zum Entspannen einlud.

Nachtleben [Felix Lobrecht FF]Waar verhalen tot leven komen. Ontdek het nu