Fahrtwind

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Um drei Uhr nachtmittags schwang Smilla sich auf ihr Fahrrad und radelte in den Stadtteil, in dem sich das Restaurant befand. Sie hatte nicht noch einmal versucht ihn anzurufen. Ihre Wut war ein wenig abgekühlt und sie wollte einfach sehen, ob ihr Verdacht sich bewahrheitete und dann würde sie noch einmal darüber nachdenken. Über alles, was passiert war, seit sie ihn kannte.

Das Restaurant fand sie auf Anhieb. Es sah noch genauso aus, es hatte sich rein gar nichts verändert. Sie hielt davor an und überlegte eine Weile. Dann fuhr sie einfach auf gut Glück los, kreiste in immer größeren Bahnen durch das Wohngebiet rund um das Restaurant. Es war total hirnrissig was sie tat und sie würde es niemandem erzählen, aber sie konnte nicht anders, es ließ ihr keine Ruhe.
Ihr Herzschlag setzte jedes Mal aus, wenn sie einen dunklen Mercedes sah und viel zu lange blickte sie den Autos dann hinterher, um wirklich sicher zu gehen, dass es nicht seins war. In ihrem Kopf herrschte ein ständiges Hin und Her, ein ständiges Abwägen, ob das, was sie hier tat, nicht vollends übertrieben war, dass sie sich zu schnell von einer dahergelaufenen Frau verunsichern ließ und dann war da aber dieser Knoten in ihr, diese Intuition, dieses Bauchgefühl. Irgendwas stimmte nicht. Und einerseits hoffte sie, dass es sich aufklärte und dass alles nur ein Missverständnis, dass diese Fremde von gestern wirklich einfach nur bekloppt war und dann wieder hoffte sie, dass sie irgendetwas herausfand, damit sie wusste, dass sie nicht verrückt war. Dass sie sich das schlechte Gefühl während der ganzen Zeit nicht eingebildet hatte.

Sie drehte Runde um Runde, hielt an Kreuzungen, in Seitenstraßen, schob ihr Fahrrad in Sackgassen und am Park vorbei, sah sich um und war immer wieder damit beschäftigt, den dicken Kloß im Hals herunterzuschlucken und sich selbst zu ermahnen, nicht jetzt schon die Fassung zu verlieren. Es würde sich alles aufklären. So oder so.
Verschwitzt hielt sie an einer Tankstelle, klammerte sich an den Lenker und ihr brodelte es. Sie würde jeden Moment losheulen. Vor Erschöpfung und weil ihr Kopf vom Denken wehtat. Aber sie zwang sich weiter zu gehen, nur ein kurzes Stück noch. Und dann, in einem Hinterhof, der mit einem Metalltor verschlossen war und augenscheinlich zu einem Café gehörte, stand er. Es war eindeutig sein Wagen. Es war sein Kennzeichen. Sie schluckte heftig und blieb vor der Einfahrt stehen. Das war's also. Alles Lüge. Oder nicht? Eine Weile konnte sie sich gar nicht bewegen. Sie stand einfach da, hielt ihr Fahrrad fest und starrte auf sein Auto. Dann fand sie wieder zu sich und schob ihr Rad auf den Bürgersteig, lehnte es gegen die Hecke neben der schmalen Einfahrt zum Hinterhof. Auf gut Glück ging sie zum Mehrfamilienhaus auf der anderen Straßenseite, kleine, etwas traurig aussehende Rasenflächen waren davor. Es gab mehrere Eingänge, aber sie fand seinen Namen nicht, wusste auch nicht, wonach sie suchen sollte. Sie ging zum nächsten. Wieder nichts. An der dritten Haustür stand dann auf der obersten Klingel kein Name, sondern Dachgeschoss. Es machte Sinn. Er würde seinen Namen nicht einfach so auf ein Klingelschild schreiben, sodass ihn jeder finden konnte. Sie schloss die Augen, doch als sie sie wieder öffnete, stand es immer noch da. Sie zögerte einen Moment, doch dann drückte sie die Klingel. Wenn das alles nicht stimmte und sie sich irrte, konnte sie immer noch einfach umdrehen und gehen und niemandem etwas davon erzählen. Trotzdem atmete hastig, während sie ihren Finger langsam wieder von der Klingel nahm.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und sie zuckte heftig zusammen, aber es war nur ein junger Typ, der aus dem Haus kam und sich Kopfhörer in die Ohren steckte und an ihr vorbeiging, ohne von ihr Kenntnis zu nehmen. Sie hatte gar keine Zeit nachzudenken, denn es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis ihr Körper reagierte und sie sich kurzerhand an der sich langsam schließenden Tür vorbeidrängelte und dann im Hausflur stand. Sie war außer Atem, obwohl sie sich nur kurz bewegt hatte. Ihr Herz pochte unbarmherzig schnell in ihrer Brust. Sie war drin. Das war etwas, das sie nie hatte tun wollen, weil sie gewollt hatte, dass er sich genauso frei fühlen konnte wie sie. Aber die Vorstellung, dass er sie monatelang angelogen hatte, dass er ihr vorgegaukelt hatte, er würde in dieser winzigen Wohnung im Berliner Norden leben, das machte sie fast verrückt. Ganz abgesehen von dieser Frau.
Sie stieg in den Aufzug, drückte den Kopf zum Dachgeschoss und fragte sich, was sie erwartete. Dass es stimmte, was Hande ihr gesagt hatte? Dass da doch ein fremder Name an der Klingel stand und alles nur ein Irrtum war? Was würde sie vorfinden und wie sollte sie sich verhalten?
Oben angekommen war da eine einfache, weiße Tür. Es schien die einzige Wohnung auf dem Stockwerk zu sein und davor stand ein Paar weiße Sneaker. Das ist Wahnsinn. Das ist absoluter Wahnsinn, sagte sie zu sich selbst. Du machst dich vollkommen lächerlich.
Sie hörte plötzlich eine Frauenstimme hinter der Tür und einige Sekunden später stand da eine junge Frau vor ihr, vielleicht ein wenig älter als sie selbst, in einer Jogginghose, mit einem weißen T-Shirt und einem lockeren Knoten in ihren dunklen Haaren. Smilla schluckte. Sie war es. Handes Schwester. Sie war sich hundertprozentig sicher.
„Hast du gerade unten geklingelt?"
Sie konnte nur nicken.
„Kennen wir uns?"
Smilla schüttelte den Kopf und lächelte verzweifelt. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie biss sich heftig auf die Unterlippe. Tränen traten in ihre Augen. Dann sah sie Felix aus dem hinteren Teil der Wohnung kommen.
Er sah so aus, als hätten sich all seine Albträume auf einen Schlag bewahrheitet. Er wurde urplötzlich so blass im Gesicht, dass er fast wie tot aussah.
„Was machst du hier?", fragte er tonlos und fast vorwurfsvoll, als er seine Stimme wieder gefunden hatte. Smilla konnte kaum noch etwas sehen, weil ihre Augen mit Tränen gefüllt waren. Doch sie versuchte Eda anzusehen.
„Tut mir leid", brachte sie kaum hörbar hervor. Dann drehte sie sich um, um so schnell wie möglich wieder nach draußen zu gelangen. Sie hatte genug gesehen. Das hier reichte. Dennoch wartete sie beinahe darauf, dass Felix sie im Vorbeigehen am Arm packte, dass er sie fest hielt und am Gehen hinderte, wie er es immer getan hatte, wenn sie sich gestritten hatten, aber er tat es nicht. Nicht dieses Mal und sie hätte am liebsten laut losgeheult, geschrien und um sich geschlagen. Als sie das erste Stockwerk hinter sich gebracht hatte, polterte Felix hinter ihr die Treppe herunter.
„Warte mal!"
Sie drehte sich nicht um. Sie ging einfach weiter. Auf der letzten Treppe holte er sie ein, packte sie an der Schulter. Sie zuckte zusammen, als er sie berührte und fuhr zu ihm herum, verlor fast das Gleichgewicht, aber er stabilisierte sie mit seinem Griff mit Leichtigkeit, hinderte sie am Fallen.
„Was machst du?"
Seine Stimme klang fassungslos. So als wäre es ihre Schuld. Als hätte sie den Fehler gemacht.
„Was ist das hier?", entgegnete sie leise. Sie konnte nicht schreien. Das war keine Wut. Gerade war da nur Schmerz und bodenlose Enttäuschung. „Was ist das hier? All das?"
Felix starrte sie an. Sein Kiefer mahlte. Er stand offensichtlich unter Stress.
„Lass mich das klären, okay?"
Sie sah ihn regungslos an. Die erste Träne lief still über ihre Wange.
„Du hast mich verarscht. Die ganze Zeit", ihre Stimme brach weg, „Du hast mich sagen lassen, dass ich dich liebe, Felix."
Seine Brust hob und senkte sich hektisch. Sein Blick irrte nervös über ihr Gesicht. Es schien ihn ziemlich fertig zu machen, dass sie weinte.
„Lass uns irgendwo hin, ich erklär dir alles."
Sie drehte sich um. Es ging nicht. Sie wollte nicht eine Sekunde länger in diesem Haus, in diesem Flur sein, mit seiner Freundin, die ganz oben auf ihn wartete.
„Ey!"
Sie ging weiter, erreichte das Erdgeschoss. Er holte sie wieder ein, riss sie herum.
„Jetzt lauf nicht weg!"
Und jetzt wurde sie doch wütend. Weil er sie so grob anpackte. Weil er sie anfauchte. Weil er einfach nicht schnallte, dass er gerade ihr Herz gebrochen hatte.
„Verpiss dich!"
Er sagte nichts mehr. Und als sie dieses Mal ging, da ließ er sie. Mit rumpelnden Schritten, irgendwas zwischen gehen und rennen, trat sie nach draußen, eilte zurück zu ihrem Fahrrad, was zum Glück noch da war, obwohl sie es nicht abgeschlossen hatte. Aber sie hatte ja keine Zeit gehabt.
Sie heulte während der ganzen Fahrt nach Hause. Die Tränen liefen sturzbachartig über ihre Wangen, aber der Fahrtwind trocknete sie schnell und sie hoffte, dass sie genauso schnell mit dem Kapitel Felix abschließen konnte. Sie brauchte ihn nicht. Sie brauchte niemanden. Sie spürte gerade zu, wie da neben der Enttäuschung und dem Schmerz auch immer mehr Trotz in ihr wuchs. Liebe war eben doch nichts für sie. Liebe war etwas für Leute wie Tobi und Cleo.

Nachtleben [Felix Lobrecht FF]Where stories live. Discover now