Familie

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Sie konnten ihr Gespräch nicht zu Ende bringen, aber Felix blieb, bis das Eden zumachte und wartete, bis Smilla mit ihren Aufgaben fertig war. Tobi quittierte es mit einem seltsamen Blick und Smilla sah ihm an, was er dachte. Er wunderte sich, wieso dieser Typ wieder aufkreuzte, wo er doch geglaubt hatte, seine Schwester hatte ihn abserviert, weil er vier Wochen lang nicht da gewesen war. Er wunderte sich, dass sie ihn zur Begrüßung umarmte, als wäre er nicht irgendein Fremder, als die sie Männer sonst betrachtete. Aber Smilla war es egal. Sollte Tobis Kopf ruhig rattern. Solange er sie nicht damit nervte, sollte es ihr Recht sein. Und er nervte sie nicht damit. Cleo dafür umso mehr. Sie feixte die ganze Zeit herum und schien sich tierisch zu freuen, dass Smilla tatsächlich jemanden gefunden hatte, der ihr nicht langweilig geworden war. So zumindest drückte sie es aus und Smilla war froh, als sie den Putzlappen in die Ecke werfen und Felix einsammeln konnte.
Als sie ihn an dem Tisch abholte, musste sie feststellen, dass er ziemlich betrunken war. Er wankte leicht, als er aufstand. Sie grinste und beschloss, dass es besser war, wenn sie seine Hand nahm, damit er leichter sein Gleichgewicht halten konnte und wieder spürte sie Tobis Blicke in ihrem Rücken, als sie das Eden verließ.

„Endlich", sagte Felix, als sie draußen waren, „Ick bin fast eingepennt."
Sie blieb stehen, hielt seine Hand fest und sah an ihm hoch. Seine Wangen waren gerötet und sein Blick glasig und aus irgendeinem Grund verursachte genau dieser Anblick ein heftiges Gefühl von Zärtlichkeit in ihr. Die angespannte Stimmung von vorhin war weg. Vergessen. Sie lächelte und drückte seine Hand.
„Ich bring dich nach Hause."
„Ne, lass ma zu dir", erwiderte er und ließ sich von ihr weiterziehen. Smilla schluckte. Das hatte sie damit gemeint. Zu ihr. Ihr Zuhause. Und dann fiel ihr auf, dass sie noch nie bei ihm gewesen war. Sie hatte nie darüber nachgedacht. Es war ihr total egal gewesen.
„Wieso gehen wir nicht einfach mal zu dir?"
„Geht nicht."
Sie lachte, weil er lallte.
„Wieso nicht?"
„Zu weit."
Sie nickte und versuchte sich vorzustellen, wie seine Wohnung wohl aussah. Aber es wollten keine Bilder vor ihrem inneren Auge auftauchen. Irgendwie fand sie es furchtbar schwer, sich sein Zuhause vorzustellen. Wahrscheinlich würde sie sowieso total daneben liegen, nachdem sie gesehen hatte, was für ein Auto er fuhr. Sie sah ihn von der Seite an. Er schien all seine Energie zu brauchen, um vorwärts zu gehen. Wahrscheinlich hatte er mit seinen Freunden ein wenig übertrieben.

Zuhause angekommen schloss sie die Tür auf und schob Felix energisch in die Wohnung, aber er blieb einfach mitten im Flur stehen und öffnete seine Jacke. Sie lachte und drückte gegen seinen Rücken.
„Los, weiter gehen!"
Sie dirigierte ihn in Richtung Schlafzimmer. Nein, mit diesem Kerl würde sie heute Nacht wirklich nichts mehr anfangen können.
Er ließ sich auch direkt auf ihr Bett fallen und versuchte sich irgendwie im Liegen auszuziehen. Es sah unkoordiniert aus und hatte etwas von einem Käfer, der auf dem Rücken lag, aber irgendwann hatte er es geschafft und sich von seinen Sachen befreit. Smilla schlüpfte selbst aus ihren Klamotten, zog sich ein Schlafshirt über und kroch neben ihn unter die Decke.
„Gut so?"
Felix antwortete nicht und sie war überrascht und gleichzeitig amüsiert, wie er es in der relativ kurzen Zeit geschafft hatte, sich so abzuschießen. Und obwohl sie genug mit betrunkenen Gästen zu tun hatte und die meistens eher nervig waren, war dieser hier etwas Besonderes. Ein Gefühl von Fürsorge war da in ihr und kurz überlegte sie, ob es besser war, vielleicht noch einen Eimer zu holen, aber er wirkte eher träge, als dass es nach Übelkeit aussah und sie entschied sich dann, auf Risiko zu gehen. Sie rutschte ein Stück an ihn heran, berührte seinen Arm mit ihrer Hand. Er lag auf dem Rücken da und starrte in die Luft, bewegte sich keinen Zentimeter und sie war sich sicher, dass sie ihn gleich schnarchen hören würde. Doch so schnell ging es dann doch nicht.
„Hast du noch andere Geschwister?", fragte er verwaschen.
„Andere Geschwister?"
„Ja, außer Tobi."
„Nein."
„Hm... ich hab zwei. Julian. Und eine Schwester."
„Okay."
Sie hob die Augenbrauen und streichelte sanft seinen Arm, fragte sich, was das werden sollte. Seine Zunge lag so schwer in seinem Mund, dass sie ihn kaum verstand. Wollte er sich jetzt wirklich unterhalten?
„Und ich hab...", fuhr er angestrengt fort, „Ich hab aber nicht mehr so viel Familie...und ich...", er brach ab und schien den Rest vergessen zu haben. Smilla lachte. Ihr Zwerchfell schmerzte unter der Erschütterung.
„Vielleicht solltest du schlafen und mir deine Familiengeschichte morgen erzählen."
„Ja, aber dann willst du sie ja nicht mehr hören."
Komischerweise traf sie der Satz. Warum musste ihm auch ausgerechnet heute einfallen, dass er rein gar nichts über sie wusste? Er erzählte ihr das doch nur, weil er wollte, dass sie etwas von sich offenbarte. Es war wie ein Geschäft. Er gab ihr etwas von seinem Leben und sie sollte ihm etwas zurück geben. Sie seufzte schwer und fuhr mit den Fingerspitzen seinen Arm entlang.
„Schlaf jetzt."
Er atmete aus und sie bildete sich ein, dass seine Augenlider träger wurden. Jedenfalls verging immer mehr Zeit, bis er blinzelte und die Bewegung wurde immer langsamer.
„Wir wollten reden."
„Können wir ja auch morgen machen. Läuft ja nicht weg."
Er drehte seinen Kopf zu ihr und zog die Augenbrauen zusammen, so gut, wie es sein Zustand noch zuließ.
„Wieso glaub' ich dir das nicht?"
„Wahrscheinlich, weil du ungefähr acht Promille hast. Da glaubst du an ganz andere Sachen."
„Hm."
Sie beschloss, dass es besser war, ihre Unterhaltung auf morgen zu verschieben. Das hier führte gerade zu nichts, außer dass sie ihn irgendwann vielleicht einmal damit aufziehen konnte und vermutlich hatte er am Morgen eh alles wieder vergessen. Demonstrativ zog sie die Decke über sie beide und löschte das Licht auf dem Nachttisch neben ihr. Als sie das nächste Mal zu Felix sah, bevor sie sich auf die Matratze legte, hatte er die Augen geschlossen.

Nachtleben [Felix Lobrecht FF]Where stories live. Discover now