Veintiuno ~ invitación

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Der Tag ist irgendwie surreal. Ich bin total unkonzentriert und Luis stupst mich im Unterricht immer wieder an, weil ich nicht zuhöre. Ich spüre Olivers Blick ab und zu auf mir. Es verunsichert mich, dass ich nicht genau einordnen kann, was das zu bedeuten hat.

Auch Luis bemerkt Olivers Aufmerksamkeit und schenkt mir mehrfach gehobene Augenbrauen, die ich gekonnt ignoriere. Was auch immer er denkt, er kommentiert es nicht und ich bin froh darüber.

Später in der Freistunde sitze ich mit Luis an einem der Tische auf dem Pausenhof. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit verbringen wir die Zeit ohne Max und Tim und es ist absolut entspannt. Es ist nicht wie früher, bevor wir sie kennengelernt haben, aber Luis und ich sind auf einem guten Weg.

Irgendwann stoppt Luis mitten im Satz und dreht sich dann nach hinten. Ich blicke von meinem Brötchen auf, das ich in den letzten zehn Minuten gedankenverloren in Stücke zerlegt habe und sehe nach, warum Luis sich umgedreht hat.

Neben dem Tisch an dem wir sitzen eben gerade Adrian und Oliver aufgetaucht sind. „Was macht ihr hier?", frage ich wenig geistreich.

„Der Kunstraum ist belegt, da ist die Kunst AG drin und wir dachten, wir setzen uns zu euch", antwortet Adrian trotzdem und Luis fordert sie mit einer einladenden Handbewegung dazu auf, gegenüber Platz zu nehmen.

„¡Imbéciles! Die können ja nicht mal zeichnen", murmelt Oliver mit genervt verzogenem Gesicht. Als er sich hinsetzt, nehme ich ihn genauer in Augenschein. Er hat dunkle Augenringe und einen müden Gesichtsausdruck.

Für einen kurzen Moment wünsche ich mir, nochmal mit Oliver alleine zu sein und ihn einfach noch einmal in den Arm zu nehmen. Sofort wehre ich diesen Gedanken innerlich ab und muss mich dann wieder daran erinnern, dass er nicht falsch ist.

Es ist okay, wenn ich mir Sorgen um Oliver mache. Ich presse die Lippen zusammen und senke den Blick auf meine Hände, die mittlerweile das Salatblatt in Quadratzentimeter rupfen.

Ich fühle mich total müde und ausgelaugt, nachdem ich schon heute Nacht pausenlos Gedanken in meinem Kopf umhergewälzt habe, nachdem ich Max quasi ins Gesicht gesagt habe, dass ich schwul bin, obwohl mein Kopf es immer noch nicht komplett realisiert und akzeptiert hat.

Etwas Neues schießt mir in den Kopf und sorgt dafür, dass ich doch wieder aufsehe. Vielleicht habe ich gerade viel zum Nachdenken, aber das ist nichts im Vergleich dazu, wie es Oliver gehen muss.

Gestern vor einem Jahr sind seine Eltern gestorben und ich habe schließlich gesehen, wie schlecht es ihm deswegen ging. Jetzt gerade zeichnet er konzentriert in sein Notizbuch und verrät mit keiner Regung, was in ihm vorgeht.

Nachdem ich eine Weile Luis und Adrian zugehört habe, folge ich Olivers Beispiel und ziehe meinen Collegeblock und einen Stift hervor. Was ich zeichne sind keine Menschen oder Dinge, sondern nur verschlungene Muster, die das Chaos in mir wiederspiegeln.

Ich bin schließlich überrascht, als unsere Freistunde schon vorbei ist und der Unterricht weitergeht. Wir haben nur noch Sport nachmittags und Max fehlt zu meiner Erleichterung, sodass ich die Stunde einfach über mich ergehen lassen kann.

Auf dem Weg nach draußen laufe ich zufällig neben Oliver und nutze die Gelegenheit, noch ein Stück weiter mit ihm zu gehen, obwohl es die falsche Richtung als zu mir nach Hause ist.

Da Oliver genau weiß, wo ich wohne, bin ich sicher, er bemerkt es, trotzdem sagt er nichts. Das Schweigen ist nicht unangenehm, aber nach einigen Metern setze ich zum Sprechen an.

„Wie geht es dir heute?", will ich vorsichtig wissen und Oliver sieht mich kurz von der Seite an. „Besser", murmelt er dann. Ich brumme zustimmend und wir schweigen wieder für einige Schritte.

¡No Desiste!Where stories live. Discover now