11. Kapitel

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POV Nico

"Ich sollte jetzt besser gehen, denke ich."
Dr. Solace sieht nickend zu mir auf, aber ich erkenne ihren besorgten Ausdruck und wie ihre Augen immer wieder hinauf zur Wendeltreppe huschen.

"Ehrlich gesagt, würde ich meine Therapie gerne verschieben, wenn das möglich ist. Ich bin etwas erschöpft von der Schule, Mrs. Solace." Mein entschuldigendes Geschauspielere verdient wortwörtlich einen Grammy Award.
Ich weiß, dass Mütter immer besorgt um ihr Kind waren und ich kann es selber nicht länger aushalten, ihr dabei zuzusehen, wortwörtlich schuldhaft auszusehen. Mein Gott, ich würde mich nicht wundern, wenn sie so vors Gericht geht und sofort als schuldig beklagt wird. Denn so sieht sie auch aus.
Schuldbewusst.

"Danke, Nicolas. Du kannst mich im Übrigen einfach Naomi nennen." Sie lächelt vorsichtig, steht langsam auf und sieht dann wieder zu den Treppenstufen.
"Soll ich dich kurz fahren?"
Hastig winke ich ab, schüttele meinen Kopf.
"Nein, alles gut. Sehen sie ruhig nach William, ich laufe." Sie nickt dankbar, begleitet mich noch langsam bis zur Tür.
Als ich über die Schwelle trete und mich eine Welle von Kälte überkommt, kann ich nicht anders als meine Handflächen aneinandezureiben.
Verdammt, wann ist es so frisch geworden?

"Sicher, dass ich dich nicht fahren soll?" Ich verneine beinahe sofort.
Dabei war das ziemlich dämlich, wie mir im Nachhinein einfällt.
Denn ich wohne nichtmals ansatzweise in der Nähe von Solace.
Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht einmal einen Plan wo ich mich gerade befand.

Erst als ein Straßenschild auf Lavender Street deutete, musste ich feststellen, dass ich am Arsch der Welt war. Wie zur Hölle soll ich von hier zu mir gelangen?
Verzweifelt sehe ich mich um. Nirgends sind Menschen zu sehen, was ziemlich verständlich war, denn es war arschkalt.
Ein Eichhörnchen düst über die Straße und huscht dann auch schon auf eine der riesigen Trauerweiden, die neben anderen Bäumen stehen.
Eigentlich ist dieser Baum nicht einmal einheimisch hier und stammt aus Ostasien.
Okay, halt.
Das war nicht mein Ziel.
Finde dein Haus, Nico.

Meine Gedanken ziemlich vollgestopft mit unnötigen Dingen und einem Recht kläglichen Orientierungssinn laufe ich also durch die Gegend.

Spätestens nach einer Stunde komme ich bei mir Zuhause an. Das war auch ziemlich notwendig, denn ich hatte jetzt Gitarrenunterricht und wenn ich nicht daran teilnehme bringt mein Dad mich mit so ziemlicher Sicherheit um.
In Rekordgeschwindigkeit ziehe ich meinen Hausschlüssel aus dem Rucksack und öffne das alte Schloss mit zwei Anläufen. Dieses alte Ding funktioniert aber auch nie einwandfrei, also sind zwei Versuche ziemlich gering.

Im Haus ist es wohlig warm, obwohl die meisten Räume Recht leblos wirken.
Keinerlei Familienbilder, keine Gemälde, keine knallige Wandfarbe.
Nein, hier ist alles eintönig. Aber ich mag es so. Im Gegensatz zu Williams Haus ist meines nicht überflutet mit irgendwelchen Topfpflanzen, oder Fan-Postern. Es ist Recht normal, wenn man das so sagen kann.
Wieso denke ich eigentlich schon wieder über diesen Sturkopf nach?

Hastig ziehe ich mir meine Jacke aus, schlüpfe aus meinen Chucks und tapse die riesigen Gänge entlang.
Wir haben ein einstöckiges Haus, was ziemlich verzweigt war. Wenn man hereinkommt ist alles aufgebaut wie ein großer Flur. Links ist das größte Zimmer und wird als Wohnzimmer anerkannt. Grob gesehen findet man dort nichts, außer einen Fernseher und eine braune Ledercouch. Im selben Raum ist auch eine offene Küche angebaut, die aussieht wie eine High-Tech-Anlage. Aber wahrscheinlich auch nur, weil wir sie so gut wie nie bedienen.

Rechts liegt die Speisekammer, während die Gästezimmer und Schlafzimmer weiter hinten liegen.
Zuerst kommt das meines Vaters und ganz hinten das von mir selbst.
Mit einem Stoß öffne ich die Tür und schließe sie dann wieder.
Mein Vater würde eh erst gegen Abend kommen, also ist es ihm vermutlich eh egal, ob ich laut bin, oder nicht.

Meine vier Wände waren Recht schlicht. Sie sind im blassen weiß gehalten und die Jalousien verdunkeln stets das Zimmer. Mein Schreibtisch sieht aus wie ein Bombenfeld - was Recht normal für Schüler in meinem Alter war.
Die Leute, die ihren Abschluss machen, sind so oder so immer geisteskrank.
Mich eingeschlossen.

Die linke Ecke ist vollgestopft mit Instrumenten, darunter meine schwarze E-Gitarre und mein Liebling, die weiß-braune Akustikgitarre. Sie ist wahnsinnig schön und ich könnte allein schon beim Anblick dahinschmelzen.
Aber dafür hatte ich zu wenig Zeit, denn als ich auf meine Uhr sehe erkenne ich schnell, dass mir sage und schreibe noch 30 Sekunden zur Verfügung stehen, um meine Akkorde rauszusuchen, meine Gitarre zu stimmen, meinen Laptop anzuschalten und dem Face-Time beizutreten.

Schaffen tue ich das nicht, aber hey, ich war nicht der letzte der dazugeschaltet ist.
Meine Gitarre hört sich mittlerweile an wie eine Göttin und die Leute, die mit mir telefonieren grinsen.

"Hi, Nico!" Das war Stella, sie ist Kanadierin und Himmel, ihr Akzent ist wahnsinnig.
Sie winkt einmal zur Kamera und dann poppt auch schon das nächste Bild auf und Cleo taucht auf.
"Yah! Am I late?" Sie ist Koreanerin und spricht Recht wenig Englisch, so weit ich das weiß. Aber die Schlüsselwörter kann sie.

Endlich schaltet der nächste Junge ein.
Das müsste Leon sein. Sein braunes, lockiges Haar fällt ihm wie immer in die Stirn und er grinst wie ein kleines Kind.
Dabei funkeln seine algengrünen Augen verschmitzt und seine Gitarre macht ein klitzekleines Geräusch.
"Hola!", sagt er dann.
Für einen Moment muss ich mein Lachen unterdrücken.

Meine Gruppe ist wirklich seltsam. Wir alle stammen von anderen Ländern ab, aber wir erlernen das gleiche. Im Prinzip ist es eine schöne Gemeinsamkeit. Deshalb fühle ich mich auch ziemlich wohl mit diesen Leuten, denn obwohl ich sie nur online kenne, weiß ich daß sie ein großes Herz haben.

"Bonjourno.", antworte ich also auf meiner Muttersprache und erhalte sofort ein strahlendes Lächeln der vier Idioten.

Sie sind mir wirklich ans Herz gewachsen.

Solangelo - Die SonnenfinsternisWhere stories live. Discover now