3. Kapitel | Thessalonicher 5:15 (Matteo)

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Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach, füreinander und für jedermann.

Beherzt klopfe ich an Pastor Fulsons Bürotür und drücke die schwere Klinke herunter.

Die Holzdielen knarren unter meinen schwarzen Sneakers, doch der alte Mann, der auf dem Stuhl hinter dem großen Eichentisch ein Nickerchen macht, wacht auch davon nicht auf.

Schmunzelnd lege ich die schwarze Dokumentenmappe vor ihm ab und umrunde den Tisch. Vorsichtig nehme ich die Lesebrille, die bereits von seiner Nase zu rutschen droht, herunter und lege sie am Rande des Schreibtisches ab.

»Was? Was?« Der Pastor zuckt zusammen und rappelt auf seinem Stuhl herum, seine Augen blinzeln verwirrt.

»Ich habe Ihnen die Predigt für morgen hingelegt.« Ich deute auf den Schreibtisch. »Wollen Sie sich nicht lieber für ein Stündchen zurückziehen?«

Der alte Mann winkt ab und schüttelt den Kopf. »Papperlapapp! Ich habe nur kurz nachgedacht.« Seine Hände huschen über die Unterlagen. »Wo ist denn nur meine Brille?«

Wortlos schiebe ich ihm das metallene Gestell herüber.

Nachgedacht, natürlich.

Rasch schiebt er sich die Brille wieder auf die Nase und greift nach der Dokumentenmappe. »Wieso soll ich die lesen? Du wirst sie doch halten, Matteo.«

Ich falte die Hände und seufze. »Aber Sie sollten zumindest prüfen, was ich vorhabe zu sagen.«

Er schüttelt den Kopf und fuchtelt mit der Mappe herum. »Als würdest du da irgendwelchen Unsinn reinschreiben! Junge, ich hätte dich schon in deiner ersten Woche auf die Kanzel lassen können.«

»Lesen Sie es trotzdem, ja? Ich fühle mich damit einfach wohler.«

Seufzend öffnet er die Mappe und brummt vor sich hin. »Schon gut, schon gut.«

»Änderungen können Sie gern–«

»Notieren. Ja, ja.« Lachend winkt er ab. »Als ob ich schon jemals Änderungen an deinen Formulierungen hatte.«

Die Dielen knarren erneut unter meinen Sneakers, als ich zurück zur Tür gehe. »Ich bin dann erst mal in Fairhill, falls Sie mich suchen.«

Pastor Fulson lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtet mich über den Rand seiner Brille. »Du könntest auch einfach mal in ein Café gehen und vielleicht ein Mädchen kennenlernen, Matteo.«

Skeptisch hebe ich eine Augenbraue. »Ein Café?«

Genervt zuckt er mit den Schultern. »Oder eben irgendwo anders hin, wo auch junge Menschen sind. Du solltest mal unter Leute.«

Ich lächle. »In Fairhill bin ich doch unter Leuten, Pastor Fulson.«

Seine Lippen pressen sich zu einer schmalen Linie zusammen.

Ist ja auch nicht so, als ob wir diese Unterhaltung nicht jede Woche führen würden.

»Ich mache mir Sorgen um dich, Matteo«, sagt er seufzend. »Als ich in deinem Alter war, hatte ich Vera bereits–«

»Einen Ring an den Finger gesteckt, ich weiß, Pastor«, unterbreche ich ihn schmunzelnd. »Aber es geht mir sehr gut. Und wenn ich mich nicht beeile, werden einige Menschen sehr traurig und vor allem hungrig sein.«

† † †

Mit meinem Einkaufswagen, den ich jeden Samstag am Hintereingang des Supermarkts in Fairhill abhole, rolle ich die Westmoreland Street entlang.

Lange unbemerkt bleibe ich nicht, denn schon von Weitem werde ich von den ersten Obdachlosen, die am Straßenrand ihr Lager aufgeschlagen haben, begrüßt.

»Hey Pastor Matteo, wie geht's dir heute?« Jordan, einer meiner ältesten Bekannten hier, hält mir freundlich die Hand entgegen.

»Immer noch nur Matteo, Jordan. Mir geht es sehr gut.« Ich lache und schüttle seine Hand und streichle auch Rusty, seinem Hund, der neben ihm auf einer zerfransten Decke liegt, über das struppige Fell. »Wie geht es euch? Möchtest du wieder Schinken und Käse?«

»Schinken und Käse ist perfekt, Pastor Matteo.« Er nickt freudig. »Uns geht's gut. Der Regen letzte Woche hat alles abgekühlt, jetzt kann man's aushalten.«

Ich suche zwei der gewünschten Sandwiches aus meinem Wagen und reiche sie ihm. »Der Regen war ein wahrer Segen, da gebe ich dir recht. Ich wünsche dir eine gute Woche, Jordan.«

»Gott schütze dich, Pastor Matteo.« Dankbar winkt er mir mit seinen Sandwiches hinterher, während ich mich weiter mit meinem Wagen fortbewege.

Hier und da kommen alt bekannte und auch neue Menschen auf mich zu, um etwas aus meinem Wagen zu bekommen. Ich halte bei jedem, unterhalte mich kurz mit ihnen und teile die Lebensmittel, die ich transportiere.

Da soll Pastor Fulson nochmal sagen, ich käme nicht unter Leute.

»Jo Pastor Matt, hast du noch diese Erdnussriegel?« Billy, der mich immer an den kleinen Michel aus Lönneberga erinnert mit seinen strohblonden Haaren, kommt auf mich zu und schlägt lässig mit mir ein.

Sein Äußeres steht im krassen Kontrast zu seinem Verhalten, denn mit seinen höchstens neun Jahren hat er hier in seinem Viertel vermutlich schon mehr schreckliche Dinge sehen müssen, als manch erwachsener Mann. Sowas geht nicht spurlos an einem Kind vorbei.

»Habe ich, aber die gibt's nur in Verbindung mit einem Apfel.« Ich reiche ihm beides. »Wie geht es Debbie?«

Billy senkt betrübt den Kopf. »Sie hat das Baby verloren. Sie haben sich gestritten, Viper hat sie in den Bauch getreten und dann ist der Wichser einfach abgehauen!« Wütend tritt er gegen ein Rad meines Einkaufswagens und das Metall scheppert bedrohlich.

»Hey.« Ich hocke mich vor ihn, meine Hände auf seinen schmalen Schultern. »Das tut mir sehr leid, Billy.«

»Ich hoffe, die Red Thugs kriegen ihn und knallen ihn ab!« Seine großen, blauen Augen sind mit Tränen gefüllt.

Ich seufze und schüttle den Kopf. »Das möchtest du du dir nicht wünschen. Vipers kleiner Bruder Dwayne ist einer deiner besten Freunde, für den wäre das sehr schlimm.«

»Warum ist Gott so gemein, Pastor Matt?« Seine Unterlippe zittert und ich ziehe ihn in eine liebevolle Umarmung.

Ich bin mir sehr sicher, dass Billy selten umarmt wird und gerade jetzt wird er das am meisten brauchen.

»Manchmal hat Gott einen Plan, den wir Menschen nicht verstehen. Und wir lernen erst später, warum die Dinge so geschehen, wie sie es tun.«

»Hey! Ihr habt das nicht bezahlt!«, ruft Mr. Singh, dem der kleine Kiosk ein Stück die Straße herunter gehört.

Irritiert drehe ich mich um und entdecke zwei große Männer, die mit Chipstüten und je einem Eis in der Hand lachend den winzigen Laden verlassen.

Und einer von Ihnen ist doch tatsächlich der Hüne von der Beerdigung.

Holy Shit | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt