28. Kapitel | Matthäus 6:34 (Matteo)

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Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen.
Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.

»Bist du schon aufgeregt?«, fragt Tyler mich in unserer Pause, die wir heute in der Mensa der Universität verbringen.

Draußen ist es so stürmisch und regnerisch, dass es unmöglich war, die freie Zeit an der frischen Luft zu verbringen.

Dabei würde mir etwas Sauerstoff tatsächlich ganz gut tun.

Es ist meine letzte Woche hier; am Donnerstag beginnen meine Prüfungen und wenn alles gut läuft, bin ich in einer Woche um diese Zeit schon Pastor.

Wie es dann weitergeht, weiß ich noch nicht. Pastor Fulson hat in den vergangenen Wochen zwar angedeutet, dass er vorhat, mittelfristig in den Ruhestand zu gehen und er sich sehr gut vorstellen könnte, mich als seinen Nachfolger anzukündigen. Doch will ich das? Ich habe das Gefühl, dass es auch gut wäre, wenn ich noch einmal etwas anderes sehe. Eine andere Gemeinde, eine andere Stadt, vielleicht ein anderes Land?

Und dann ist da noch Archie.

Wir sind noch nicht wirklich lange zusammen, aber ich wünsche mir, dass dieser Zustand andauern wird und so wäre es nur richtig, ihn in meine Überlegungen und eventuellen Pläne miteinzubeziehen.

Nach dem, was er mir aus seiner Vergangenheit erzählt hat, gehe ich nicht davon aus, dass es ihm schwerfallen würde, in eine andere Stadt zu gehen, aber das Konstrukt seines ... Arbeitsverhältnisses ... scheint verbindlicher zu sein, als er es vermutlich ahnt. Selbst wenn er gehen will, bedeutet das nicht unbedingt, dass man ihn gehen lässt.

»Ich bin gut vorbereitet«, antworte ich meinem Kommilitonen, der an seinem Sandwich kaut. »Und selbst?«

»Glücklicherweise habe ich bis zu meinen Prüfungen ja noch gute vier Wochen Zeit«, gibt er zurück. »Weißt du denn schon, was du hinterher machen wirst?«

Ich schüttle den Kopf und seufze. »Ich bin noch unentschlossen.«

† † †

Nach meiner letzten Vorlesung verharre ich noch einen Moment im Saal, während die anderen Studenten bereits erleichtert nach draußen stürmen. Die Tatsache, dass dies meine letzten Stunden hier sind, lässt mich ein wenig melancholisch werden, auch wenn ich mich auf meine – wenn derzeit auch ungewisse – Zukunft freue.

Beim Wort Zukunft denke ich unwillkürlich an Archie und ziehe mein Handy aus meinem Rucksack. Da ich das Gerät so gut wie nie benutze – Archie hatte es zuletzt tatsächlich nur in den Händen, um darauf dieses kleine Spiel mit der Schlange zu spielen, muss ich den Akku auch nur sehr selten aufladen. Allerdings ist mein fester Freund, denn das ist Archie nun für mich, dazu übergegangen, mir kleine Nachrichten auf das Gerät zu schicken.

1 neue SMS von Archie

Ich vermisse dich <3

Das Lächeln auf meinem Gesicht lässt sich beim Lesen dieser drei Worte auch nicht durch meine Grübeleien aufhalten. Mühevoll tippe ich mithilfe der Nummerntasten eine Nachricht zurück an ihn.

Ich muss unbedingt daran denken, das Guthaben aufzuladen.

Ich vermisse dich auch.
Hoffe, dass wir uns bald
wiedersehen können.

Hoffe ich auch. Ich hab
heute noch einen job
aber hinterher werd ich
dem boss sagen das ich
aufhöre.

Nachdenklich kaue ich auf meiner Lippe. Irgendwie beschleicht mich ein mulmiges Gefühl beim Gedanken daran, dass Archie seinem Boss sagen will, dass er kündigt.

Sollten wir beide vorher
nochmal darüber reden?

Willst du nicht das ich
aufhöre?

Ich will vor allem, dass dir
nichts passiert, Archie!

Ich starre auf den kleinen Bildschirm des Geräts, doch auch nach ein paar Minuten kommt noch immer keine Antwort und. Schließlich schiebe ich das Telefon wieder in meinen Rucksack und verlasse den Hörsaal.

Von der Universität brauche ich etwa zehn Minuten mit dem Fahrrad nach Hause. Da das Wetter allerdings bereits heute Morgen alles andere als fahrradtauglich war, habe ich heute früh ausnahmsweise den Bus genommen.

Jetzt scheine ich gerade eine Regenlücke erwischt zu haben und so beschließe ich, zu Fuß zu gehen. Das gibt mir zusätzlich die Gelegenheit, mir Gedanken über Archies und meine Zukunft – sofern er das ebenso sieht wie ich – zu machen.

Soweit ich weiß, hat Archie keine Ausbildung oder ähnliches, aber er ist nicht dumm und ich bin mir sicher, dass wir irgendwo eine gute Arbeit für ihn finden werden.

Ich könnte mir vorstellen, dass er mit seiner Stärke auf einer Baustelle eine große Bereicherung wäre und er sagt selbst von sich, dass er ein guter Autofahrer ist. Er könnte also ebenso gut, die liefernden Lastwagen fahren oder einen Kran bedienen. Selbst bei der Stadtreinigung könnte er einen guten und vor allem wichtigen Job machen. Als er mir bei unserem letzten Treffen erzählte, dass ihm die Frage, was ich machen würde, wenn ich kein Pastor werden wollte, einfiel als er gerade ein – wie nannte er es? – Putzauto beobachtete, musste ich ihn einfach küssen.

So ist Archie einfach. Er sieht etwas und denkt darüber nach. Und manchmal sind es eben viele Dinge oder Eindrücke und dann gibt es viel zum Nachdenken für ihn. Dabei verliert er wahrscheinlich einfach den Fokus.

Dass ihm von seiner eigenen Familie schon so früh suggeriert wurde, dass er dumm ist, noch dazu von Pädagogen, die es besser wissen müssten, hat mich zutiefst erschüttert.

Hätten nicht gerade seine–

Plötzlich wird alles dunkel um mich.

Hände packen mich an den Schultern, drücken meine Arme gegen meinen Rücken und ziehen mich rückwärts. Etwas Dickes wird gegen meinen Mund und meine Nase gedrückt, es riecht süßlich, chemisch und dann verliere ich das Bewusstsein.

Holy Shit | ✓Where stories live. Discover now