29. Kapitel | Irgendwas ist komisch (Archie)

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Meine Finger trommeln ungeduldig auf dem Lenkrad herum, während ich auf die anderen warte.

Keine Ahnung, was das heute für ein Auftrag ist, aber sowas krass Abgesprochenes hatten wir lange nicht. Der Boss rief gestern Abend bei Hugo an und gab ihm genaue Anweisungen, wo wer von uns wann zu sein hatte.

Was genau dabei Sache ist und worum es eigentlich geht, hat uns meistens sowieso nichts anzugehen.

Hugo und Gino sind mit ein paar anderen irgendwohin gefahren, um jemanden abzuholen, mit dem der Boss reden will.

Reden heißt meistens nicht nur reden, sondern voll oft will er eigentlich mit jemand anderem reden und nimmt dann aber den Ersten als Grund dafür. Oder aber reden bedeutet einfach, dass der Boss redet und der andere dann nicht mehr auffindbar ist.

Ich soll mit dem Auto in einer Seitenstraße warten, wo meine Mitbewohner mit dem Typen ankommen und dann fahren wir zum Treffpunkt mit dem Boss.

Normalerweise wird so ein Wirbel und Aufwand nur betrieben, wenn es um diese andere Familie geht, mit der der Boss Stress hat. Die, die auch Alberto auf dem Gewissen haben.

Und so lungere ich hier schon seit einer geschlagenen Stunde im Auto herum und warte auf die anderen.

Bei dem ganzen Trubel konnte ich mit keinem reden, ständig war irgendwas. Aber wenn das alles vorbei ist, werde ich den Boss endlich zur Seite nehmen und ihm sagen, dass ich aufhöre. Klar werde ich dann bei Hugo und Gino ausziehen müssen, aber ich hoffe einfach, dass der Boss mir ein paar Tage Zeit dafür lässt, damit ich mit Matteo darüber sprechen kann.

Und irgendwie hoffe ich, dass ich dann bei Matteo wohnen kann. Seine Wohnung ist zwar nicht besonders groß, aber wir werden uns schon verstehen. Hoffe ich.

Ich könnte ihm ja–

Im Rückspiegel leuchtet mir ein sich von hinten näherndes Auto mit Lichthupe entgegen und das ist mein Zeichen, den Motor zu starten.

Ich rücke die Pistole in meinem Gürtel zurecht und drehe den Zündschlüssel um, als die hinteren Türen geöffnet werden und Hugo und Gino mit einem dünnen Mann, der einen schwarzen Beutel über den Kopf gezogen hat, einsteigen.

Der Typ scheint zu schlafen, auf jeden Fall sackt sein Kopf immer wieder nach hinten oder gegen Hugos fette Schulter, der ihn wiederum barsch von sich wegstößt.

Der arme Kerl wird mit ordentlichen Nackenschmerzen aufwachen.

»Fahr los«, befiehlt Gino und fuchtelt mit der Knarre in seiner Hand herum und ich trete aufs Gas, dass die Reifen quietschen.

Meine Instruktionen waren klar und deutlich und so fahre ich den vereinbarten Weg zu dem verlassenen Fabrikgelände am Stadtrand.

Die wenigsten Verabredungen des Boss finden hier statt, es sieht also vermutlich schlecht aus für den Typen auf dem Rücksitz. Wahrscheinlich ist es einer der kleinen Dealer, die der Boss beschäftigt und er hat versucht, sich was von dem Zeug einzubehalten oder noch schlimmer: Er hat es teurer verkauft und den Boss um Geld betrogen.

Der letzte Mann, der das versucht hat, hat das Fabrikgelände in Müllsäcken verlassen. Verteilt auf viele einzelne Müllsäcke. Der hatte wohl nicht damit gerechnet, dass der Boss seine Leute auch regelmäßig kontrolliert, indem er bei ihnen kaufen lässt.

Wie auch immer, ich sollte mir lieber Gedanken darüber machen, wie ich nachher am besten meinen Weggang verkünde und was ich danach machen will.

Vielleicht könnte ich ja bei einem Obstbauern oder sowas arbeiten? Immerhin habe ich Matteo auch sehr gut beim Mirabellenpflücken helfen können.

Voll cool, dass mir auch das Wort direkt eingefallen ist!

Matteo würde mich jetzt bestimmt anlächeln und sein Grübchen wäre zu sehen.

Wie es ihm wohl gerade geht? Ich weiß, dass er morgen oder übermorgen diese superwichtige Prüfung hat. Und dann ist er ein richtiger Pastor. Er machte keinen aufgeregten Eindruck auf mich, vielmehr war er total entspannt. Aber ich bin ein bisschen aufgeregt für ihn.
Prüfungen waren für mich in der Schule immer das Schlimmste. Ganz besonders die, wo man vor der gesamten Klasse stehen und Fragen beantworten musste. Ich wusste die Antworten meistens nicht. Und wenn ich da vorne stand und mich alle anstarrten, war mein Kopf sowieso immer total leer.

»Kommst du, amigo?« Hugo tippt mir mit dem Lauf seines Revolvers gegen die Schulter und ich zucke zusammen.

»Was?«

»Komm mit hoch.«

Verwirrt runzle ich die Stirn. Normalerweise warte ich im Auto, bis die Sache erledigt ist. Zwar gehört dem Boss das Gelände und die Polizei kommt nie hier vorbei, aber sicher ist sicher. Für den Fall, dass der Boss weg muss, soll immer ein Fluchtauto bereitstehen. Und ich bin eben der beste Fahrer.

Der Vorteil daran ist, dass ich oben bei den ... Geschäften ... nicht dabei sein muss. Es interessiert mich ohnehin nicht, wer mit wem welchen Streit hat oder wer den Boss bescheißen wollte. Und wer ist schon scharf drauf, dabei zu sein, wenn der Boss jemanden abknallt oder Schlimmeres? Ich jedenfalls nicht. Meistens mache ich mir sogar die Musik im Auto etwas lauter, damit ich den Knall nicht hören muss.

Zögerlich öffne ich die Fahrertür und steige aus. »Und wer fährt dann das Auto?«

Hugo zuckt mit den Schultern und schleift den stöhnenden Mann mit sich. »Anweisung vom Boss. Alle müssen mit.«

Der Typ mit dem Sack über dem Kopf scheint allmählich wieder zu sich zu kommen, doch Hugos fleischige Finger halten ihn fest im Griff und seine Hände werden auf dem Rücken mit Kabelbindern zusammengehalten. Außerdem wiegt er wahrscheinlich gerade mal die Hälfte vom fetten Hugo.

»Auto offen lassen oder abschließen?«, frage ich und Gino rollt genervt mit den Augen, der obligatorische Zahnstocher wandert von seinem linken zu seinem rechten Mundwinkel.

»Keine Ahnung, lass es offen. Los jetzt, alle warten.« Unsaft stößt er den stöhnenden Typen nach vorn und ich trabe hinter den drei Männern hinterher.

In der alten Fabrik wurde früher Milch oder Käse oder sowas hergestellt. Inzwischen sind alle Fenster kaputt, manche Decken sind sogar schon eingefallen und überall sind Spinnweben und Staub. Jede Menge Staub.

Wir gehen die Treppen, deren Geländer zum größten Teil zerfallen oder nicht mehr vorhanden ist, nach oben in die erste Etage, wo wir bereits erwartet werden.

Der Boss sitzt lässig auf einem Stuhl mit roten Stoffbezügen, ein Bein über den Oberschenkel des anderen gelehnt. Wie immer, wenn ich ihn sehe, trägt er einen schwarzen Anzug  und hat einen Zigarillo zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt.

Haben die extra einen hübschen Stuhl für ihn hierher geschleppt?

Ihm gegenüber steht ein kleiner Klapphocker, wie man sie sonst nur zum Camping nimmt.

Dorthin schubst Hugo den abgeholten Mann mit dem Sack über dem Kopf, drückt ihn auf den Hocker, so dass er mit dem Rücken zu uns sitzt, und zerrt den schwarzen Stoff herunter.

Krass, der Mann hat so schwarze Locken, die mich total an Matteo erinnern.

Und er ist auch so klein wie Matteo.

Mein Blick fällt auf seine Hände und auch die erinnern mich total an meinen Freund.

Plötzlich kann ich nicht mehr atmen. Mein Herz rast in meiner Brust und meine Hände zittern.

Rrrritsch!

Mit einem fiesen Grinsen reißt Hugo das Paketband, das über den Mund des Mannes geklebt war, ab und spuckt ihm abfällig vor die Füße.

Und da weiß ich es.

Fuck, das ist wirklich Matteo.

Holy Shit | ✓Where stories live. Discover now