20. Kapitel | Sprüche 3:13 (Matteo)

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Glücklich der Mensch, der Weisheit gefunden hat, der Mensch, der Verständnis erlangt!

Heute ist der erste Tag, an dem sich alles schon richtig nach Herbst anfühlt.

Ich verabschiede die letzten Gottesdienstbesucher am Eingang der Kirche und immer wieder zauselt der kühle Wind durch meine Haare, weht den modrigen Duft von nassem Laub herüber.

Gedankenverloren blicke ich dem alten Ehepaar hinterher, das an den Armen verhakt langsam zur Straße geht.

Pastor Fulson und seine Frau haben sich schon vor einer Viertelstunde verabschiedet, Vera wollte heute gern ein aufwänderiges Kürbisrezept ausprobieren. Sie haben mir angeboten, später dazuzukommen und mit ihnen zu essen, doch ich habe dankend abgelehnt.

Ich möchte lieber allein sein.

Als das Ehepaar aus meinem Blickfeld verschwunden ist, gehe ich zurück in die Kirche und schließe die nicht mehr knarrende Eingangstür. Gerade als ich den Schlüssel herumdrehen will, pocht es so laut daran, dass das Geräusch durch das gesamte Gotteshaus schallt und ich zucke erschrocken zusammen.

»Matteo?«, ruft eine Stimme von draußen.

Archie.

Ich lege meine Hand an das kühle Holz der Tür und atme tief gegen das bedrückende Gefühl in meinem Brustkorb.

Wumm! Wumm! Wumm!

»Matteo? Ich bin's! Archie!«

Ich presse meine Lippen fest zusammen und bin hin- und hergerissen.

Der Vikar Matteo will die Tür öffnen, denn das Haus Gottes sollte niemandem verschlossen sein.

Der Mann Matteo möchte die Tür zuhalten, denn er will sich nicht ein weiteres Mal von Archie enttäuschen lassen.

Wieder pocht es an die Tür, doch nun leiser.

»Matteo? Bist du da?« Archies Stimme klingt traurig. Fast schon verzweifelt.

Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn dort stehen, den Kopf und die breiten Schultern hängen lassend.

Langsam drehe ich den Schlüssel im Schloss und öffne die Tür einen Spalt.

Das Bild aus meiner Vorstellung wird Wirklichkeit, als ich nach draußen sehe.

Geduckt gegen den Nieselregen, der inzwischen eingesetzt hat, steht er da und blickt auf den Boden zu meinen Füßen.

»Was willst du?« Matteo, der Vikar, mag vielleicht die Tür geöffnet haben, aber Matteo, der Mann, ist misstrauisch und immer noch enttäuscht.

Archie hebt den Kopf und blickt mich mit seinen grünen Augen an, sein Mund klappt auf und zu, als würde er nach Worten suchen. »Ich ... ich habe noch mehr Fragen.«

Ich seufze und schüttle den Kopf. »Ich denke, es ist besser, du suchst dir jemand anderen, dem du sie stellen kannst.«

Meine Hand will die Eingangstür wieder zudrücken, doch Archies starker Arm stemmt sich dagegen.

»Ich ... wollte dich nicht anlügen«, ruft er durch den schmalen Spalt. »Ich hab ja gesagt, ich bin ein Arschloch.«

Ich lasse die Tür los und verschränke die Arme vor der Brust, der Spalt wird ein wenig größer. »Du musst aber keins sein, wenn du das nicht willst.«

Der riesige Mann tritt von einem Fuß auf den anderen, sein Kopf beschämt gesenkt. »Das ist aber echt schwer«, wispert er.

Der wütende Knoten in meinem Bauch löst sich langsam auf, doch das dumpfe Drücken auf meinem Brustkorb ist noch da. »Warum bist du wirklich hier, Archie? Du könntest zu jeder beliebigen Kirche in dieser Stadt gehen und dort deine Fragen stellen. Oder du schaust im Internet, da wird einem so ziemlich jede Frage dieser Welt beantwortet und du musst nicht mal mit Gegenfragen rechnen.«

Vollkommen unerwartet rauscht Archie wie ein riesiger Berg auf mich zu, drückt die Tür auf und packt meinen Kopf. Und auf einmal beugt er sich nach unten und legt seine Lippen auf meine. Die feinen Barthaare kitzeln an meiner Haut.

Ich bin wie erstarrt und gleichzeitig herrscht in meinem Inneren ein wahrer Tumult.

Dieser eine mutige Akt von ihm sorgt dafür, dass ich endlich den Gedanken zulasse, den ich mir selbst bisher die ganze Zeit verwehrt hatte: Ich mag Archie mehr als nur wie einen Freund. Ich habe mich in ihn verliebt.

Viel zu schnell lässt er mich los, macht einen großen Schritt zurück und stolpert dabei fast aus der Kirche. »Ich ... ich hab keine Freundin, weil ich nie eine mochte«, stammelt er. »Und ich hab's echt versucht, aber als Hailey mit mir rummachen wollte, musste ich die ganze Zeit nur an dich denken. Dass du bestimmt weißt, wo Melonen wachsen und überhaupt muss ich immer an dich denken.«

Seine großen, tätowierten Hände reiben über sein Gesicht. »Tut mir leid«, murmelt er. »Ich hoffe, du kriegst jetzt keinen Ärger mit deinem Gott oder sowas. Vergiss einfach, dass ich hier war und das gemacht hab.«

Noch bevor er sich umdrehen und wieder verschwinden kann, habe ich seine Hand gepackt.

Archie blickt verwundert auf unsere Finger und dann in mein Gesicht.

»Ich möchte das bestimmt nicht vergessen, Archie«, flüstere ich und trete an ihn heran. Ich muss meinen Kopf in den Nacken legen, so riesig ist er im Vergleich zu mir. »Kannst du mich bitte nochmal küssen?«

Holy Shit | ✓Where stories live. Discover now