16. Kapitel | Matthäus 6:26 (Matteo)

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Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?

Vollkommen überrascht über Archies Frage hebe ich die Augenbrauen und huste einmal kurz.

Das war sehr direkt.

Will ich ihm darauf antworten? Ich müsste es nicht, immerhin bin ich ihm keine Rechenschaft schuldig, aber ich habe das Gefühl, dass er die Frage keineswegs als Angriff gemeint hat, sondern wirkliches Interesse an der Antwort hat.

»Nun ...«, setze ich an. »In der protestantischen Kirche geht es deutlich toleranter zu als in der Katholischen. Bei einem Seminar im letzten Jahr habe ich auch einen Pastor kennengelernt, der mit einem Mann verheiratet ist. Und Gott selbst ist es gleich, wen man liebt. Das glaube ich jedenfalls.«

Archie schiebt seine riesigen, tätowierten Hände in die vorderen Taschen seiner Jeans, während er neben mir her geht. »Ah, okay. Krass. Das hätte ich nicht gedacht.«

Ich schmunzle. »So geht es vielen Menschen, befürchte ich. Die Kirche wirbt auch nicht unbedingt dafür und kaum jemand traut sich, direkt danach zu fragen. Kann ich dir noch mit anderen Antworten dienen?«

Nachdenklich kaut er auf seiner Unterlippe, sein Blick irgendwo vor uns ins Leere gerichtet. »Hm ... ich weiß nicht. Wenn du schwul sein darfst, dann darfst du ja bestimmt auch wichsen. Das freut mich voll für dich.«

Seine Aussage trifft mich so unerwartet, dass mein nächster Schritt dafür sorgt, dass einer meiner Füße am anderen hängenbleibt und ich ins Straucheln gerate.

Obwohl Archie eben noch die Hände in den Hosentaschen hatte, reißt er gerade noch rechtzeitig die Arme nach vorn und hält meine Schultern, um mich auf diese Weise davon abzuhalten, lang auf dem Bürgersteig hinzuschlagen.

Für seine Größe hat er extrem schnelle Reflexe.

»Hey, Vorsicht«, brummt er, seine warmen Hände noch immer auf meinen Schultern. »Alles okay?« Seine grünen Augen mustern mich besorgt.

Ich nicke. »Ja, entschuldige. Das ... kam etwas unerwartet.« Ich lache unbeholfen und fahre mit der Hand durch meine Haare.

Archies Hände lösen sich von meinen Schultern und er hebt seine eigenen kurz. »Sorry, ich sag voll oft, was ich denke. Sag mir einfach, wenn das doof ist, okay?«

Unweigerlich breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. »Ich finde, das ist eine durchaus positive Eigenschaft.«

Skeptisch zieht er die Stirn kraus. »Echt? Ich glaub nicht. Keine Ahnung, ich hab irgendwie keinen Filter oder so. Wurde mir zumindest mal gesagt.«

»Schade, dass Menschen dir das Gefühl gegeben haben, Ehrlichkeit wäre etwas schlechtes«, antworte ich. »Wahrscheinlich–«

Wieder einmal werde ich vom Vibrieren seines Telefons unterbrochen. Archie hebt das Gerät an sein Ohr, nickt, während er zuhört und sagt schließlich: »Ja, heute aber nicht. Ruf Hugo an, der müsste zu Hause sein.« Es folgt eine Pause, ehe er weiterspricht: »Ich hab heute meinen freien Nachmittag, also kann Hugo das machen.« Eine erneute Pause und dann beendet Archie das Gespräch.

Mit überrascht gehobenen Augenbrauen sehe ich ihn an. Um ehrlich zu sein, hätte ich nicht damit gerechnet, dass er hier bleibt, wenn ihm anscheinend Arbeit aufgetragen werden soll.

»Wenn du zu tun hast, ist das–«, setze ich an, doch er hebt sofort abwehrend die Hände und schüttelt den Kopf.

»Nein, ich hab gesagt, ich habe den ganzen Nachmittag Zeit und dabei bleibt es auch«, erklärt er fest entschlossen. »Außerdem kann Hugo seinen fetten Arsch auch mal bewegen. Ich werde nur immer zuerst angerufen, weil ich nicht so faul bin.«

Das Lächeln, das sich auf meinem Gesicht ausbreitet, kann ich nicht aufhalten. Ich muss zugeben, dass ich mich unsagbar darüber freue, dass Archie noch länger Zeit mit mir verbringen möchte.

»Und ... was machen wir jetzt noch?«, fragt er und schiebt seine Hände wieder zurück in die Hosentaschen. »Musst du noch andere Leute besuchen?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, für heute reichen die Besuche, denke ich. Wir könnten uns noch ein wenig auf die Bank im Kirchgarten setzen und uns unterhalten, wenn du magst.«

Archies Mund verzieht sich zu einem Lächeln und er nickt zustimmend. »Okay, ich hab nämlich ganz schön viele Fragen.«

Unweigerlich muss ich lachen. »Dann bin ich sehr gespannt darauf, aber ...« Ich bleibe stehen und er betrachtet mich mit fragend gerunzelter Stirn. »Dann wechseln wir uns ab.«

Noch weiter ziehen sich seine rotbraunen Augenbrauen zusammen. »Äh ... was?«

»Mit den Fragen. Wenn du mich was fragst, darf auch ich dich etwas fragen.«

Er schnauft kurz. »Ich glaub zwar nicht, dass ich besonders gute Antworten geben kann, aber von mir aus.«

Ich betrachte ihn einen Moment nachdenklich, ehe ich mich wieder in Bewegung setze.

Irgendwie habe ich das Gefühl, Archie hat ein recht negatives Bild von sich selbst.

† † †

Wenig später beobachtet Archie interessiert, wie ich die Eingangstür des Gotteshauses verschließe, nachdem wir im kühlen Inneren sind. Verwundert runzelt er die Stirn. »Wieso schließt du ab? Steht die Kirchentür nicht allen offen?«

»Du glaubst gar nicht, wo die Leute überall etwas mitnehmen, nur weil sie sich unbeobachtet fühlen«, antworte ich lachend. »Also ja, wir weisen niemanden ab. Aber wir lassen auch nicht einfach unsere Türen offen stehen, wenn niemand zu Hause ist.«

Mit einem Ergibt-Sinn-Gesichtsausdruck zuckt er mit den Schultern und folgt mir durch den großen Saal zum hinteren Bereich, von dem aus wir in den Garten gelangen.

Gemeinsam setzen wir uns auf die Bank zwischen den Bäumen und für ein paar Augenblicke lauschen wir nur dem Summen und Brummen um uns herum.

Archies Augen verfolgen Bienen, Schmetterlinge und Vögel und schließlich scheint er vollkommen vereinnahmt vom Treiben an der Vogeltränke.

»Voll viele Vögel«, stellt er begeistert fest und lacht, als ein Rotkehlchen ein Bad im kühlen Nass nimmt, sich anschließend kurz schüttelt und dann davonfliegt.

Ich hingegen beobachte lieber den großen Mann neben mir, der mit seinen strahlenden Augen gerade eher einem Kind, das etwas zum ersten Mal macht, gleicht als einem breiten Muskelprotz, dessen Hauptaufgabe es ist, andere einzuschüchtern und zu verängstigen.

Zaghaft räuspere ich mich. »Also ... möchtest du mir jetzt vielleicht erklären, warum ausgerechnet du hier bist, um mit mir über den gestrigen Vorfall zu sprechen, wenn du doch gar nicht dabei warst?«

Holy Shit | ✓Where stories live. Discover now