10. Kapitel | Sprüche 12:16 (Matteo)

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Ein Tor zeigt seinen Zorn alsbald; aber wer Schmähung überhört, der ist klug.

»Was ... hey, wo willst du denn hin?«, fragt Tyler verwirrt, als ich abrupt aufstehe.

»Ich muss kurz was klären«, entgegne ich knapp und gehe mit langen Schritten über die Wiese in Richtung Straße, wo der dunkle SUV noch immer parkt.

Der Typ, der eben ganz offensichtlich dort etwas gekauft hat, ist bereits zu seinen Freunden zurückgekehrt, doch das Auto samt Hugo scheint noch auf weitere ›Kunden‹ zu warten, auch wenn die Scheibe inzwischen wieder nach oben gefahren ist.

Beherzt klopfe ich gegen das Glas und staune nicht schlecht, als sich statt des Fensters auf meiner Seite die gegenüberliegende Fahrertür öffnet und niemand geringeres als Archie aussteigt.

»Matteo!«, ruft er überrascht. »Was machst du denn hier?«

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, erwidere ich mit verschränkten Armen. Die Enttäuschung schmeckt bitter auf meiner Zunge.

Das Fenster auf der Beifahrerseite fährt nun doch herunter und der speckige Hugo blickt mich feindselig an. »Willst du was kaufen, hombrecito? Ansonsten verpiss dich!«

Langsam senke ich den Kopf und sehe ihm direkt in die dunklen Augen. »Ich würde vorschlagen, ihr startet den Motor, denn die Polizei wird in etwa drei Minuten hier sein und die klopfen nicht freundlich an deine Scheibe, Hugo.«

»Mierda!«, flucht er und fuchtelt hektisch mit den Armen herum. »Fahr los, Archie!«

Der große, bärtige Mann steigt zurück ins Auto, sein Blick noch immer verwirrt auf mich gerichtet.

Hugo zeigt bedrohlich mit dem Finger auf mich, während der Motor aufheult. »Dafür wirst du bezahlen, pendejo!«, schreit er und das Auto rast mit quietschenden Reifen davon.

† † †

Zwei Tage später bin ich wieder mit meinem Einkaufswagen in Fairhill unterwegs und stelle mit Erleichterung fest, dass Mr. Singhs Kiosk wieder geöffnet ist.

Meinen Wagen nicht loslassend, stecke ich meinen Kopf in die Tür und sehe mich um. »Hallo Mr. Singh?«, rufe ich und kurz darauf erscheint der Kopf eines jungen Mannes mit pechschwarzen Haaren hinter der Theke, die dunklen Augen zu misstrauischen Schlitzen geformt.

»Was wollen Sie?«, fragt er, sein Akzent deutlich hörbar.

Ich winke ihm freundlich lächelnd zu. »Hi, ich bin Matteo. Ich kenne Mr. Singh schon seit ein paar Jahren und wollte mich erkundigen, wie es ihm geht, weil mir aufgefallen ist, dass das Geschäft jetzt längere Zeit geschlossen ist.«

Sein Blick bleibt skeptisch. »Dinesh ist meine Cousin. Ich kommen aus Bangalore, zu helfen. Dinesh ist noch Krankenhaus. Sie wollen kaufen?«

Zögerlich blicke ich auf meinen Einkaufswagen, der noch zu gut einem Drittel mit Lebensmitteln für die Mittellosen in Fairhill gefüllt ist. Zwar kennt man mich dank meiner wöchentlichen Runden hier inzwischen, so dass ich mich relativ gefahrlos durch das verrufene Viertel bewegen kann, allerdings gibt es auch trotz meiner bekannten Hilfe noch genügend arme Seelen, die eine Gelegenheit, etwas zu ›finden‹ nicht verstreichen lassen würden.

Dennoch werfe ich einen Blick nach draußen und lasse den Griff des Wagens los, um den winzigen Kiosk zu betreten.

Ich sammle ein paar Schokoriegel und Chipstüten zusammen und lege sie Mr. Singhs Cousin aus Bangalore auf den Tresen.

Etwas klappert in einer Schublade, als er mit zittrigen Fingern nach den Artikeln greift und ich vermute, dass es ein Gegenstand zur Selbstverteidigung war.

»Das alles?«, fragt er und tippt die Beträge in die vergilbte Kasse.

»Ja, danke schön«, entgegne ich und ziehe meinen Geldbeutel aus der Hosentasche. »Richten Sie Mr. Singh meine besten Genesungswünsche aus? Ich hoffe, er wird bald wieder gesund sein.«

Der nervöse Mann nickt nur und starrt auf seine Kasse. »Das sind ... ähhh ... zwölf sechzig bitte.«

Ich schiebe ihm einen Zehner und einen Fünfer über den Tresen und klemme mir die Waren unter die Arme. »Stimmt so, vielen Dank.«

Rasch klaubt er die Scheine zusammen und schiebt sie in seine Hosentasche, nicht in die Kassenschublade.

»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, verabschiede ich mich und trete wieder aus dem kleinen Geschäft auf den Bürgersteig.

Und natürlich ist mein Einkaufswagen verschwunden.

Seufzend blicke ich mich um und entdecke ihn an der Straßenecke links von mir, unweit der Stelle, wo ich vor ein paar Wochen das Zusammentreffen mit dem aggressiven Hugo und Archie hatte.

Und neben dem Wagen entdecke ich doch tatsächlich den massigen, schmierigen Latino, der gerade mit einem hämischen Grinsen die Lebensmittel, die ihm gefallen zu scheinen, herausfischt.

»Hey!«, rufe ich laut und laufe auf ihn zu. »Was soll das?«

Er hebt seinen Kopf, seine Augen formen sich sofort zu gehässigen Schlitzen. »Los, gib her, Gino«, fordert er jemanden auf und noch bevor ich ihn und meinen geplünderten Wagen erreichen kann, haben er und ein mittelgroßer Mann mit einem Zahnstocher im Mundwinkel einen Straßenmülleimer in den Einkaufswagen entleert.

Mit einem letzten, schwungvollen Tritt befördert Hugo das Gefährt auf die Straße, hält mir den erhobenen, dicken Mittelfinger entgegen und grinst breit. »Fick dich, kleiner fariseo! Heute ist Zahltag für dich! Vamos, Gino!«

Das Brummen eines startenden Motors dringt herüber und wieder springt der feiste Latino in einen dunklen SUV, diesmal sitzt allerdings der Typ mit dem Zahnstocher am Steuer und nicht Archie, als das Auto davonrast, bevor ich sie erreichen kann.

Seufzend lasse ich die Schultern hängen und blicke dem schwarzen Wagen nach.

»Von diesen Mafia-Handlangern solltest du dich lieber fernhalten, Pastor Matteo.« Jordan, der an der Straßenecke auf seinem Schlafsack sitzt, hat die gesamte Szene still schweigend beobachtet und blickt mich nun mit angsterfüllten Augen an. Rusty, sein Hund, liegt auf einer Decke neben ihm.

Ich reiche ihm die Lebensmittel, die ich in Mr. Singhs Kiosk gekauft habe und noch immer in den Armen halte, und mache mich kopfschüttelnd daran, den angebeulten Einkaufswagen von der Straße zu zerren und aufzurichten.

Zum Leidwesen der Dinge, die Hugo bei seiner Plünderung im Wagen belassen hat, schien der Mülleimer voller Kaffee- und schimmeligen Essensresten gewesen zu sein, so dass der gesamte Wageninhalt unbrauchbar scheint.

»Vielleicht sollten die sich besser von mir fernhalten«, knurre ich mehr zu mir selbst, ehe ich mich meinem alten Bekannten zuwende. »Pass bitte auf dich auf, Jordan.«

»Mach's gut, Pastor Matteo.« Er winkt mir zu, als ich den Wagen am Griff packe und mich auf den Weg zurück zum Supermarkt mache. Dort werde ich den Müll entsorgen.

Holy Shit | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt