31. Kapitel | Die Lage ist verdammt ernst (Archie)

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Überall ist Blut. So viel Blut.

Mein Herz rast und immer wieder sehe ich rüber zu Matteo, der angespannt nach draußen sieht.

Meine blutigen Finger umklammern das Lenkrad, während mein rechter Fuß das Gaspedal bis zum Boden drückt.

Aber Matteo lebt.

Wir leben.

Noch.

Und damit das so bleibt, muss ich schnell fahren. Schnell und weit.

In dem Moment, wo ich dort oben in der Fabrik Matteos Hand berührte, wurde es wieder ganz still und klar in meinem Kopf. Urplötzlich war mir klar, dass es keinen anderen Ausweg für uns gab.

Alles lief wie in Zeitlupe vor meinen Augen ab, obwohl es in Wahrheit nur Sekunden gewesen sein mussten.

Wie ich das Springmesser, statt Matteos Daumen wie befohlen abzuschneiden, in seine Hand drückte und er blitzschnell zupackte.

Wie ich meine Pistole zog und sie ohne zu zögern auf den Boss und die Jungs neben ihm abfeuerte.

Wie dieser zu Boden ging und Matteo zeitgleich das Messer hochriss und nach hinten in Hugos Auge rammte.

Wie dickes mexikanisches Blut auf uns spritzte, als Hugo sich kreischend die Hände vors Gesicht schlug.

Und wie ich meinen Freund am am Arm packte und wir beide tief geduckt aus der Halle rannten, während die anderen durcheinander schrien und erste Schüsse in unsere Richtung fielen.

Wir rannten nach draußen, direkt zum SUV, dessen Schlüssel noch immer in meiner Hosentasche steckten.
Matteo hielt kurz an, das Messer noch immer in seiner Hand.

»Was tust du?«, rief ich. »Wir müssen weg!«

Er schüttelte den Kopf und flitzte wie ein Wiesel zu der schwarzen Limousine, die etwas weiter entfernt stand. Mit gekonnten Bewegungen stieß er das Messer in zwei der Reifen.

Zschhhhhhhhhh!

So schnell wurden die Dinger platt, das hab ich echt noch nie gesehen.

Als Matteo mit mir in den SUV sprang, kamen schon die ersten Jungs aus der Fabrik gelaufen, allen voran ein blutüberströmter Gino, der auf uns schoss, aber gnadenlos verfehlte.

Ich weiß gar nicht, wann ich Gino je was habe treffen sehen. Der war grundsätzlich nur für Warnschüsse gut, weil er wirklich immer daneben geschossen hatte.

Viel mehr schockte mich allerdings die Tatsache, dass er Hugo offenbar einfach dort oben hatte liegen lassen.

»Fahr los, Archie!«, schrie Matteo neben mir. Ich legte den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gas.

Und krass, rückwärts schnell fahren ist schwerer als vorwärts, so viel ist schon mal klar.

Aber ich bin echt ein guter Fahrer und jetzt sind wir auf dem Highway auf dem Weg aus der Stadt. Weit weg von Gino, Hugo und dem Boss. Hoffentlich.

»In etwa zwanzig Meilen können wir eine Abfahrt nehmen, da gibt es einen See und einen Campingplatz«, sagt Matteo neben mir. Sein Kopf lehnt an der Scheibe und seine braunen Augen starren nach draußen. »Dort können wir uns waschen und dann sollten wir auf der Landstraße bleiben, das ist sicherer.«

Erschrocken hebt er den Kopf und starrt mich an. »Hast du dein Handy dabei?«

Eilig nicke ich und zerre es aus meiner Jackentasche, um es ihm zu reichen. »Willst ... willst du jemanden anrufen?«

Sein dünner Finger drückt auf den Knopf an der Tür und das Fenster auf seiner Seite fährt surrend nach unten.

Ehe ich protestieren kann, hat er das Gerät nach draußen geworfen und ich sehe nur noch im Rückspiegel, wie es sich auf dem Asphalt in seine Einzelteile zerlegt. »Was zur–?«

»Damit sie uns nicht finden, Archie«, stellt Matteo klar und lässt das Fenster wieder nach oben fahren. Sein Kopf lehnt sich zurück an die Scheibe und er sieht unendlich erschöpft aus. »Sie dürfen uns niemals finden.«

Ich beiße mir auf die Lippe und umfasse das Lenkrad fester.

Die Lage ist ernst. Sehr ernst.

Und in meinem Kopf summen lauter Gedanken herum, die ich irgendwie sortieren muss. Bilder vom blutenden Hugo, seine Schreie und das ganze Blut. Matteo, der das Messer mit einer Präzision geführt hat, als hätte er nie was anderes gemacht.

Hat man als Vikar viel mit Messern zu tun?

Vikar ... Scheiße!

»Was ... was ist mit deiner Prüfung?«, platze ich heraus.

Matteo hebt den Kopf und blickt mich lange an, ehe er ihn langsam schüttelt und wieder an die Scheibe lehnt. »Das ist vorbei, Archie«, sagt er kaum hörbar. »Das ist alles vorbei.«

Ohne ein weiteres Wort fahre ich einfach weiter, blicke auf die Straße und konzentriere mich darauf, schnell, aber nicht zu schnell zu fahren.

Ich habe keine Ahnung, wie es weitergeht, was aus uns wird, aber das Wichtigste ist, dass wir leben. Und dass wir zusammen sind.

Und irgendwie hoffe ich, dass Matteo mir erzählen wird, was das alles zu bedeuten hatte.

Holy Shit | ✓Where stories live. Discover now