9. Kapitel | Psalm 112:5 (Matteo)

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Wohl dem, der barmherzig ist und gerne leiht und das Seine tut, wie es recht ist.

»Das sind Mirabellen.« Ich stehe auf und gehe zu dem Baum, auf den Archie zeigt. »Einige sind auch schon reif. Die Gelben kann man bedenkenlos essen.«

Er folgt mir, streckt seinen langen Arm aus und pflückt zwei der gelben Beeren mühelos mit einer Hand ab. »Sind da Kerne drin?«

Nickend nehme ich ihm eine ab und ziehe die Frucht vorsichtig auseinander, um ihm den Kern zu zeigen. »Ja, sie sind eher wie Pflaumen als Kirschen, finde ich. Recht süß, aber manchmal auch mit unerwarteten Bewohnern, darum schaue ich lieber nach.«

Archie tut es mir gleich, seine kräftigen Finger quetschen die kleine Frucht bei dem Versuch, das Fruchtfleisch auseinanderzuziehen.

Kurzerhand drücke ich ihm meine in die Hand und nehme ihm seine ab. »Siehst du?« Ich zeige ihm das Innere der zerdrückten Mirabelle, neben deren Kern sich eine dicke, weiße Made windet. »Die Made weiß auch, dass die lecker sind.«

Angewidert verzieht er das Gesicht, betrachtet die madenlose Frucht in seinen Fingern nochmal prüfend, ehe er vorsichtig davon abbeißt. »Lecker«, murmelt er kauend. »Aber jetzt hast du keine.«

Ich lege die Mirabelle samt Made neben dem Stamm des Baumes ab und zeige lächelnd nach oben. »Aber ich habe doch noch ganz viele. Ich kann jeden Tag Mirabellen essen.«

Er grinst breit und isst auch den Rest. »Aber du bist zu klein, du kommst gar nicht ran.«

Schmunzelnd verschränke ich die Arme vor der Brust. »Ich habe eine Leiter. Oder ich frage einfach jemanden, der größer ist, ob er mir helfen kann.«

Sein Blick wandert durch die Äste mit den Früchten über unseren Köpfen und kurzerhand pflückt er eine weitere der gelben Mirabellen ab, um sie mir anzubieten. »Hoffentlich ohne Made.«

»Und wenn schon.« Ich zucke mit den Schultern und ziehe gekonnt das Fruchtfleisch auseinander.

Madenfrei.

»Es ist genügend da. Für die Maden, für mich und für große Helfer.« Ich sehe ihn an, als ich mir das süße Obst in den Mund stecke. »Warum bist–«

Ehe ich meine Frage ausformulieren kann, zuckt Archie zusammen, greift sich an die hintere Tasche seiner schwarzen Hose und zieht ein vibrierendes Smartphone hervor. »Ja, Boss?« Seine Stimme klingt irgendwie tiefer, als er den Anruf entgegennimmt. Auch sein Gesicht hat wieder diesen grimmigen Ausdruck. »Bin unterwegs.«

Rasch schiebt er das Gerät zurück in seine Tasche und blickt sich suchend um.

Auch ohne Worte verstehe ich, dass sein Besuch mit diesem Anruf ein abruptes Ende gefunden hat und so führe ich ihn zu der Tür, durch die wir in den Garten gekommen sind, durch die Kirche und schließe den Eingang auf.

Ohne ein Wort des Abschieds schlüpft Archie durch die nicht länger knarrende Tür nach draußen und bewegt sich im Laufschritt die Straße herunter.

† † †

Was auch immer diese unerwarteten Begegnungen mit dem großen Mann bedeuten sollten, ab diesem Nachmittag sehe ich Archie nicht mehr.

Meine Wochen verlaufen nach dem üblichen Schema: Kurse in der Universität, Vorbereitungen der Gottesdienste, Gespräche mit Trauernden, mit Eltern, deren Kind getauft werden soll, mit zukünftigen Eheleuten.

Gerade die Letzteren bereiten Pastor Fulson immer besondere Freude, das merke ich ihm jedes Mal an. Ich denke, das liegt vor allem daran, dass er seine Frau wirklich von ganzem Herzen liebt.

Holy Shit | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt