5. Kapitel | Jesaja 41:10 (Matteo)

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Fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit.

Langsam erhebe ich mich und starre die beiden lachenden Männer an, die geradewegs auf mich zusteuern.

Mr. Singh steht an der Eingangstür seines Ladens und ruft ihnen wütende Beschimpfungen hinterher, von denen ich glücklicherweise nicht alle verstehe. Als der Mann in der schwarzen Lederjacke mit den gegelten, schwarzen Haaren stehenbleibt und dem schmächtigen Kioskbetreiber mit ausgestrecktem Zeigefinger droht, verschwindet der Ladenbesitzer jedoch rasch wieder in seinem Geschäft.

»Pass bitte mal kurz auf meinen Wagen auf, Billy«, murmle ich dem kleinen Jungen zu und baue mich mit verschränkten Armen vor den Männern, die beide wie riesige Maschinen wirken, auf.

Erst im letzten Moment bemerken sie mich und bleiben mit verdutzten Gesichtsausdrücken stehen.

Passiert vermutlich nicht so oft, dass sich ihnen jemand in den Weg stellt.

»Hey, guck mal, Archie«, lacht der schmierige Typ, der vor wenigen Sekunden noch Mr. Singh einzuschüchtern versucht hat, und zeigt auf mich. »Da steht einer und weiß nicht, wann er Platz zu machen hat.«

Archie, mir auch bekannt als Margots-Fake-Cousin-mit-den-langen-Fingern, leckt an seinem Eis und lacht für einen Moment, ehe sein Blick sich mit Erkenntnis weitet.

Offenbar scheine auch ich einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.

»Guten Tag», begrüße ich die beiden höflich. »Ich denke, ich bin gerade Zeuge eines Missverständnisses geworden, denn Sie haben die Waren, die Sie bei Mr. Singh erworben haben, offenbar nicht bezahlt.«

Ungläubig schaut der Mann, der im Gegensatz zu Archie mehr Masse als Muskeln zu haben scheint, zu mir und wieder zu seinem Begleiter. »Na sowas. Da hat einer von Mut geträumt.«

»Ach Hugo, lass mal–« Der Riese mit dem rot-braunen Bart rollt mit den Augen und meidet meinen Blick ganz offensichtlich.

Ich seufze und wende mich dem Schwarzhaarigen zu. »Wenn es Ihnen an Mitteln mangelt, so können wir sicherlich gemeinsam eine Lösung finden. Aber einen Mann, der es mit seinem kleinen Laden kaum schafft, seine Familie ausreichend zu ernähren, zu bestehlen, ist nichts, was ich tatenlos mit ansehen kann."

»Dann solltest du vielleicht die Augen einfach zumachen, Kleiner.« Er macht einen großen Schritt auf mich zu, doch ich weiche weder seinem Blick noch seinem massiven Körper aus.

»Lasst gefälligst Pastor Matt in Ruhe!«, schreit Billy, der pflichtbewusst den Griff meines Einkaufswagens umklammert hält.

Interessiert hebt Hugo, wie ihn der Bärtige eben nannte, die Augenbrauen und zeigt auf den noch zu gut einem Drittel gefüllten Wagen. »Ist das etwa dein Zeug, hombrecito?«

Billys Stirn ist wütend zusammengezogen, während er versucht, den Wagen rückwärts von dem bedrohlichen Mann davonzuziehen. »Haut ab! Das sind Sachen für Leute, die sie brauchen, und nicht für solche Fettsäcke wie euch!«

Oh Billy, dein Schutz ist lieb gemeint, aber gerade nicht besonders hilfreich. Vielmehr könnte das Hugos Latino-Temperament anstacheln.

»Oh, Fettsäcke?«, knurrt der gegelte Fleischberg mir entgegen, als hätte ich die Worte gesagt und nicht Billy. »Dann wollen die Fettsäcke dir doch mal helfen, deinen Wagen auszuräumen, damit du darin ins Krankenhaus rollen kannst, pendejo.« Er drückt meinem ›Bekannten‹ seine Chipstüte und das Eis in die Hände und lässt seine Finger bedrohlich knacken.

Und da ist das erwartete Temperament auch schon.

Archie legt seine Hand an die Schulter seines Begleiters und brummt: »Hugo, lass den Scheiß.«

Hugos fleischige Hand packt den Kragen meines schwarzen Hemds, während er sich wütend zu seinem Kollegen umdreht. »Denkst du ich lass mich von so einem niñito hier dumm anmachen? Los, den machen wir fertig!«

»Alter, Hugo.« Archie rollt wieder mit den Augen. »Der Typ ist ein Pfarrer oder sowas. Ich glaub nicht, dass–«

In Windeseile habe ich Hugos Handgelenk gepackt, drehe es nach unten und schlängle mich mit einem gezielten Schlag in seine Armbeuge hinter ihn, wo ich seinen Arm zur Mitte seines Rückens ziehe.

Der Riese schreit schmerzerfüllt auf und geht leicht in die Knie. »Archie, fuck! Tu doch was!«

Doch Archie steht nur wie versteinert da, zwei Eis und zwei Chipstüten in den Händen und kann es wahrscheinlich gerade nicht fassen, dass sein 140 Kilo-Kollege von einem nur halb so schweren ›Männchen‹ ausgeschaltet wurde.

»Ich wiederhole mein Anliegen gern noch einmal«, sage ich laut und deutlich in Hugos Ohr. »Ihr geht jetzt zurück zu Mr. Singh und bezahlt das, was ihr euch genommen habt. Ihr bittet ihn um Entschuldigung und werdet ihm versprechen, so etwas nicht noch einmal zu tun.«

»Und was wenn nicht, du kleiner– ahhh!« Hugo schreit auf, als ich sein Handgelenk noch weiter nach oben ziehe und sein Schultergelenk kurz davor ist, sich einmal auszukugeln.

»Das war keine Entscheidungsfrage, Hugo«, sage ich und blicke seinen noch immer perplexen Kollegen eindringlich an. »Ihr werdet euch danach viel besser fühlen, weil ihr das Richtige getan habt. Und wenn ihr ganz lieb seid, kriegt ihr jeder einen Schokoriegel aus meinem Wagen. Ich kaufe immer die leckeren mit dem gesalzenen Karamell.«

Archies Augenbrauen ziehen sich verwundert zusammen. »Du kaufst die Sachen und verschenkst sie dann?«

»Magst du gesalzenes Karamell, Archie?« Ich grinse ihn an, ohne meinen Griff an Hugos Handgelenk zu lockern. Die Haut des Riesen ist schon ganz glitschig dort, wo meine Finger ihn festhalten. »Hast du das bei deiner Cousine auch immer bekommen?«

Der große Mann mit den tätowierten Armen und Händen, die noch immer das mittlerweile schmelzende Eis halten, senkt beschämt den Blick und stupst mit seinem schwarzen Lederstiefel gegen Hugos Halbschuh. »Lass den Kirchenjungen in Ruhe, Hugo.«

Zufrieden lächelnd lasse ich das Handgelenk los und sofort springt der untersetzte Latino ein Stück zurück. Mit wütend zusammengezogenen Augenbrauen rollt er seine Schulter. »Das wird dir noch leidtun, du kleiner Bastard.«

Ich verschränke demonstrativ die Arme vor der Brust und weiche seinem Blick nicht aus. »Ich warte. Ebenso wie Mr. Singh.«

»Da kannst du lange–« Hugo setzt zu einem weiteren Angriff an, doch Archie stellt sich ihm in den Weg. Chipstüten rascheln und dann hält der dickliche Latino das tropfende Eis den Händen.

»Komm jetzt mit, Hugo!«, zischt der Bärtige ihn an und beide stolpern zurück zu Mr. Singhs Kiosk.

Wütend knallt der Riese in der Lederjacke die Eistüten auf die Straße und wirft mir einen letzten, hasserfüllten Blick zu. »Wir sehen uns wieder, Bastardo!«, ruft er. »Und ich erzähle meinem Boss persönlich von dir.«

Ich lächle nur und nicke ihm zu. »Und ich richte meinem Boss ein gutes Wort über dich aus, Hugo.«

»Pastor Matt, du bist einfach der krasseste Dude! Wie Rocky oder Captain America!« Billy neben mir hält mir begeistert seine Hand zum High Five hin, doch ich schlage nicht ein, sondern beobachte weiterhin den Ladeneingang.

Es dauert nicht lange und Hugo und Archie kommen wieder heraus, keine weitere Beute in ihren Händen. Noch bevor der massige Latino mit dem bösen Blick in meine Richtung abdrehen kann, hat sein Freund ihn an der Lederjacke gepackt und zerrt ihn in die entgegengesetzte Richtung.

Zumindest einer der beiden scheint zu wissen, welcher Pfad der Richtige ist.

Holy Shit | ✓Where stories live. Discover now