30. Kapitel | Jakobus 3:16 (Matteo)

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Denn wo Neid und Streit ist, da sind Unordnung und lauter böse Dinge.

Als sich der dunkle Stoff von meinen Augen löst, ist das Erste, was ich sehe, ein großer, schlanker Mann in einem Anzug, der mich abschätzig betrachtet.

Und ich erkenne ihn sofort.

Enrico Locatello.

Ich bin ihm zwar vorher nie persönlich begegnet, doch das bedeutet nicht, dass ich nicht genau über ihn und seine Machenschaften Bescheid weiß.

Fleischige Finger legen sich an mein Gesicht und niemand geringeres als Hugo, Archies Kollege und Mitbewohner, reißt mir mit wahrer Genugtuung in seinem Blick das Klebeband vom Mund.

Hugo.

Archie!!

Entsetzt reiße ich die Augen auf.

Ich weiß, dass um mich herum noch mehr Männer stehen. Mindestens zwei haben mich hierher gebracht, doch alle befinden sich außerhalb meines Sichtfelds. Wenn ich mich jetzt umdrehe und Archie dort sehe ...

Wusste er es? Dass ich derjenige bin, den sie holen?

War das alles nur ein abgekartertes Spiel von Locatello? Hat er Archie geschickt, um mich ausfindig zu machen? War ich wirklich so dumm, mich in solch eine Falle locken zu lassen?

Jedem hätte ich das zugetraut, aber nicht Archie.

Doch was, wenn er genauso ahnungslos war wie ich? Ich habe nie auch nur im Ansatz etwas über meine Vergangenheit erzählt.

Wenn ich mich jetzt umdrehe und er steht dort und hat keine Ahnung ... ich würde unser beider Leben riskieren. Seines vermutlich noch mehr als meins.

Noch bevor ich mich entscheiden kann, ob ich einen Blick wagen und zumindest an seinem Gesicht erkennen kann, welche meiner Theorien richtig ist, taucht ein großer Mann in meinem rechten Blickfeld auf.  Nicht genug, um ihn direkt anzusehen, doch genug, um zu erkennen, dass es Archie ist. Ich weiß einfach, dass er es ist.

Er ist also wirklich hier.

Doch wusste er es?

»Matteo Furnari«, sagt Enrico Locatello mit solch einer Abfälligkeit in seiner Stimme, als hätte er gerade die Bezeichnung für eine abstoßende Krankheit oder ein ekelerregendes Insekt ausgesprochen. »Wie schön, dass du uns mit deiner Anwesenheit beehrst.«

Ich sehe den großen, dünnen Mann nur an, sage nichts. Vermutlich würde jedes Wort von mir ihn nur noch mehr erzürnen.

»So schweigsam.« Er lacht und lässt eine dünne Rauchwolke aus seinem Mundwinkel steigen. »Ganz die Schwester.«

Für eine Sekunde verschwimmt alles vor meinen Augen. Blanke Wut steigt in mir auf, rauscht in meinen Ohren und benebelt all meine Sinne. Meine Hände ballen sich zu Fäusten, die Fingernägel bohren sich in die Handflächen, meine Handgelenke drücken gegen die Kabelbinder, bis die Plastikstriemen in meine Haut schneiden und da nur noch dieser Schmerz ist. Nichts als Schmerz.

Ich atme tief ein und aus, atme in den Schmerz und konzentriere mich nur darauf. Nur den Schmerz.

»Weißt du, wir können das Ganze hier bequem abkürzen, Matteo«, sagt Archies Boss mit einem hämischen Grinsen. »Du sagst mir, wo deine Familie ist – genauer gesagt dein Vater – und wir alle können uns wieder unseren täglichen Geschäften widmen. Was hältst du davon?«

Lang und tief atme ich aus. »Ich weiß es nicht«, gebe ich ehrlich zurück. »Ich habe schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu meiner Familie. Ich bin kein Teil mehr davon.«

Holy Shit | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt