Kapitel 4

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Chris

Ich erkenne mich selbst kaum wieder.

Ich stehe vor dem Spiegel im Hausflur meiner Eltern, und ich habe das Gefühl, ein Fremder blickt auf mich zurück.

Meine Mom bestand darauf, dass ich mich wenigstens zur Abschiedsfeier meines Vaters endlich mal wie ein Erwachsener kleide. Ihre Worte, nicht meine.

Aus anderem Grund hätte ich diesen schwarzen Anzug niemals angezogen. Ich sehe aus, als würde ich auf eine Beerdigung gehen. So langsam fange ich an zu glauben, dass es meine eigene ist.

Sie denkt zwar, ich könnte sie von der Küche aus nicht hören, doch drei ganz bestimmte Worte meiner Mutter dringen glasklar zu mir durch.

Christian. Firma leiten. Langzeit.

Bevor ich länger darüber nachdenken kann, ziehe ich mir einen Mantel über und greife nach meinen Autoschlüsseln.

"Ich fahr schon mal vor!", ist alles, was ich in dieses riesige Haus rufe, bevor ich raus und direkt auf mein Auto zu stürme.

Ich rase so schnell davon, dass meine Reifen quietschen und ich mir sicher sein kann, mindestens drei Nachbarn geweckt und zwei Beschwerden eingeholt zu haben.

Es ist bereits dunkel draußen, doch heute scheint die Welt extra düster zu sein.

Ich will, dass mein Vater sich endlich ausruht.
Ich will, dass dieser Stress einen Ende für ihn findet. Aber um Gottes Willen, ich will diese Firma nicht übernehmen. Sie haben mir diese Verantwortung nur aufgetragen, weil ich der älteste von meinen Geschwistern bin. So, wie sie es immer getan haben.

Mein halbes Leben lang musste ich mich um Cece und Ben kümmern, weil meine Eltern zu beschäftigt mit ihren Jobs waren. Ich habe meine Kindheit aufgegeben, damit meine Geschwister eine haben können. Und ich liebe sie, also habe ich es gerne getan. Jedes Mal, wenn ich ein Lächeln auf ihren Lippen gesehen habe, wusste ich, dass es sich gelohnt hat. Ich habe genau dort hingehört, wo ich war.

Ich bereue es nicht. Ganz ehrlich, ich würde es immer wieder genau so machen.

Aber inzwischen bin ich fast dreißig Jahre alt, und ich habe das Gefühl, noch nie wirklich für mich selbst gelebt zu haben. Gerade, als ich endlich meine Sachen packen und von hier verschwinden wollte, kam der Anruf meiner Mutter.

Ich hatte meine gepackte Tasche bereits in der Hand, doch als ich das Wort Herzinfarkt gehört habe, habe ich alles stehen und liegen gelassen und bin sofort ins Krankenhaus gefahren. Seit dem liegt die Tasche noch immer gepackt aber unangerührt in meinem Schlafzimmer.

Ich denke wirklich, etwas in mir ist gestorben, als ich meinen Vater in diesem Krankenhausbett liegen gesehen habe, seine Haut blass und sein Gesicht in sich zusammengesackt. Die ganzen Jahre habe ich mich so damit beschäftigt, für meine Geschwister da zu sein, dass ich fast schon vergessen habe, selbst noch Eltern zu haben.

Es ist nicht ihre Schuld. Ich könnte und würde niemals sagen, dass sie schlechte Eltern waren. Sie haben uns immer alles ermöglicht.
Wir mussten nur ein einziges Mal nach etwas fragen, und bevor wir unseren Satz auch nur zu Ende sprechen konnten, hatten wir es bereits.

Sie waren keine schlechten Eltern.
Sie waren nur eben nie wirklich da. Und ich will nicht genau so werden.

Fünfzehn Minuten später stehe ich vor der Firma.

Der Parkplatz wird bereits von ein paar Autos gefüllt. Wahrscheinlich sind es Mitarbeiter, die noch die letzten paar Dinge vorbereiten.

Ich merke erst, dass ich mich nach einem ganz bestimmten Kennzeichen umsehe, als ich es beleuchtet durch die Straßenlaternen circa fünf Parkplätze weiter von mir erkenne.

- GF333 -

Giulia Foxton.

Nach unserer Begegnung im Pausenraum bin ich zurück ins Büro gegangen und habe mir ihre Akte angesehen. Um fair zu sein; ich habe mir die Akte jedes Mitarbeiters angesehen, um mehr über die Menschen zu erfahren, mit denen ich zusammenarbeiten werde. Ich habe mich jedoch bewusst dafür entschieden, mit ausgerechnet ihrer Akte anzufangen.

Sie konnte einen langen Lebenslauf mit den verschiedensten Berufen aufweisen, der deutlich gezeigt hat, dass sie eigentlich unterqualifiziert für diesen Job ist. So lange sie ihre Arbeit vernünftig erledigen kann, interessiert es mich aber nicht wirklich.

Es waren die Empfehlungsschreiben ihrer vorherigen Arbeitgeber, die mein Interesse geweckt haben.

Sie wurde von allen dreizehn als freundlichste Person beschrieben, die sie jemals kennenlernen durften. Mit ihr zusammenzuarbeiten wäre ein Privileg gewesen, und ihre Empathie hätte jedem Ihrer Kollegen/innen die Arbeit mit ihr erleichtert. Es war eins ihrer größten Talente, einen schlechten Arbeitstag zu einem guten zu machen und Menschen mit Freude auf den nächsten Tag blicken zu lassen.
Jeder einzelne hat ihren Abschied bedauert.

Es fällt mir nicht schwer, das zu glauben.

Erst recht nicht nach unserem aufeinandertreffen im Pausenraum. Sie hat die Torte für die Feier an Stelle von Theodore's eigenem Sohn abgeholt und mir nicht mal gesagt, was für ein Arschloch ich bin. Für einen kurzen Moment konnte ich sehen, dass sie das gedacht hat, doch sie hat es mit einem Lächeln überspielt und bei meinem Versuch nochmal neu anzufangen einfach mitgemacht.

Jeder andere an ihrer Stelle hätte wahrscheinlich das Gegenteil getan. Gott, ich weiß, ich hätte es.

Ein Klopfen an das Fenster meines Autos reißt mich aus meinen Gedanken.

Es ist niemand anders als Giulia Foxton, die mich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck erwartet, als ich das Fenster öffne.

"Hey, ist Theodore auch schon hier?", fragt sie leicht panisch und sieht sich auf dem Parkplatz um. Erst jetzt sehe ich die große Tasche in ihrer Hand, aus der Goldfarbenes Lametta rausschaut.

"Nein, nur ich", antworte ich.

Sie atmet erleichtert aus. "Gut. Wir sind nämlich noch nicht fertig."

Ich nicke verstehend.

Giulia streicht eine lose Haarsträhne hinter ihr ihr und verlagert ihr Gewicht von einem Bein auf das andere.

"Ich sollte wieder hoch, die anderen warten auf mich. Und das hier", sagt sie und hält die Tasche hoch, bevor sie Anstalten macht, sich von mir zu entfernen.

"Warte, Giulia."

Ich schließe das Fenster, schalte den Motor ab und steige aus. Die Frau vor mir sieht mich überrascht an.

Meine Lippen formen die Worte, bevor mein Gehirn darüber nachdenken kann.

"Ich kann helfen."

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