Kapitel 10

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Giulia

Ich begehe gerade den wahrscheinlich größten Fehler meiner umfangreichen Karrierelaufbahn.

Chris hat mir nicht nur ausdrücklich gesagt, sondern auch gezeigt, dass er kein Interesse daran hat, seinen Geburtstag überhaupt anzuerkennen.

Und doch hat mich das nicht davon abgehalten, zum nächsten Supermarkt zu fahren und zwei Schokoladen Cupcakes und dazugehörige Kerzenzahlen zu kaufen.

Das ist nicht mal das schlimmste.

Ich hätte mich ja noch immer um entscheiden können. Zumindest hatte ich dafür genug Zeit. Aber ich habe die Kerzen in die Cupcakes gesteckt und sie angezündet. Nicht mal dann habe ich gemerkt, was für eine schreckliche Idee das alles ist.

Nope.

Selbst auf dem Weg zum Büro von Chris hätte ich eigentlich noch umdrehen und das alles vergessen können.

Stattdessen habe ich an seine Tür geklopft.

Wenn ich mich beeilen würde, müsste ich es sogar noch schaffen, schnell wegzurennen, bevor er die Tür öffnet.

Aber ich wäre nicht ich, wenn ich auch nur ein einziges Mal die schlauere Entscheidung treffen würde.

Die Vorstellung von einem Menschen, der an seinem Geburtstag völlig alleine an seinem Arbeitsplatz sitzt, verdrängt jegliche Art von Scham oder Stolz, die ich jemals empfunden habe.

Als die Tür also aufgeht, schenke ich einem sichtlich erschöpften Chris bereits im Vorhinein ein entschuldigendes Lächeln.

"Happy Birthdayyy?"

Ich treffe auf Sprach- und Fassungslosigkeit.
Für einen Moment kann ich meine Kündigung bereits in meinen Händen halten.

Dann macht Chris einen Schritt zur Seite, um mich in sein Büro zu lassen.

Unauffällig atme ich erleichtert aus und laufe mit dem Teller in der Hand an ihm vorbei. Ich sollte mich wirklich nicht zu früh freuen. Wahrscheinlich hat er einfach nur Angst, dass jemand irgendetwas hiervon mitbekommen könnte.

"Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", verlässt es ihn mit ehrlichem Schock, während er die Tür schließt.

Fast zu hundert Prozent bin ich mir sicher, dass es nicht die gute Art von Schock ist. Ich mache es natürlich auch nicht besser, in dem ich ihm den Teller hinhalte.

"Nichts sagen. Wünsch dir was", fordere ich seine Geduld heraus, die größer sein zu scheint, als ich erwartet hätte, denn er lehnt sich tatsächlich etwas nach vorne und pustet die Kerzen aus.
Ich verkneife mir ein breites Grinsen.

"Was hast du dir gewünscht?", kann ich meine Neugier nicht zurückhalten.

Ja, ja. Ich weiß. Seine Wünsche laut auszusprechen lässt sie nicht wahr werden.
Daran glaube ich bloß nicht. Ich hoffe, Chris tut es auch nicht.

Er zögert einen Moment. "Dass Menschen endlich auf das hören, was ich ihnen sage", antwortet er dann.

Okay. Zeit für den Vortrag.

Damit habe ich natürlich schon gerechnet.
Ich bin zwar bereit dazu, Konsequenzen zu übersehen, aber mir ist schon noch bewusst, dass sie trotzdem existieren. Ich bin leichtsinnig, nicht blöd.

"Ist dir eigentlich bewusst, dass du hiermit genau das Gegenteil von dem getan hast, worum ich dich gebeten habe?", fragt Chris und verschränkt seine Arme vor der Brust.

In den letzten vier Wochen habe ich ihn nicht so ernst gesehen, wie jetzt. Hier, in seinem weißen Hemd und mit einem strengen Ausdruck auf seinem Gesicht sieht er wirklich aus wie jemand, der eine Firma von fast dreißig Mitarbeitern leitet, statt sich vor ihnen zu verstecken.

Wo Unsere Seelen AtmenWhere stories live. Discover now