Kapitel 21

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Giulia

Ich schaffe das.

Verdammt, Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt.

Ich sollte endlich anfangen, die letzten Wochen hinter mir zu lassen und mich professionell zu verhalten. Egal, wie oft Chris und ich uns geküsst haben, im Endeffekt bedeutet es rein gar nichts.
Wir kennen uns ja nicht einmal wirklich.

Vorgesetzter und Angestellte.

Das sind wir.

Das müssen wir sein.

Entschlossen mache ich mich also auf den Weg in sein Büro.

Das Unternehmen, für das er ein neues Logo per Hand gezeichnet hat, hat nämlich wieder angerufen und einen neuen Auftrag aufgegeben. Sie bestehen darauf, wieder mit dem talentierten Künstler vom letzten Mal zusammenzuarbeiten. Ihre Worte, nicht meine. Nicht, dass ich ihnen nicht zustimmen würde.

Seit drei Tagen denke ich jetzt schon ununterbrochen daran, was ich in Chris' Büro gefunden habe. Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel sehe oder Lippenstift auftrage, versuche ich das zu sehen, was er gesehen hat. Irgendetwas muss er ja gesehen haben, wenn es ihm wert war, meine Lippen aus purer Erinnerung zu zeichnen.

Ich kann einfach nicht fassen, dass ich die ganze Zeit über dachte, unser Kuss hätte ihn nicht berührt. Während ich mir den Kopf darüber zerbrochen habe, saß er in seinem Büro und ist fast durchgedreht.

Ist es gemein, dass mich der Gedanke daran schmunzeln lässt?

Ja. Scheiße, Ja. Ist es.

Genau deswegen bin ich ihm in den letzten Tagen aus dem Weg gegangen. Ich finde zu viel Gefallen daran. Es ist eine Art Bestrafung an mich selbst, weil ich ganz genau weiß, was ich wollen würde, wenn ich Chris sehe.

Jetzt geht es nicht anders, schätze ich. Wäre mir sein Vertrauen nicht so wichtig, hätte ich den Feigling gespielt und Izzy vorgeschickt. Aber das kann ich ihm nicht antun. Sie weiß nicht einmal über meinen Fund in seinem Büro Bescheid.

Außerdem habe ich bereits einen Plan.

Ich öffne die Tür, werfe die Mappe einfach in sein Büro und renne weg. Gut, oder? Sehr reif und verantwortungsvoll. Definitiv nicht kindisch und peinlich.

So weit soll ich bloß nicht kommen, denn gerade, als ich die Tür öffnen will, ertönen laute Stimme aus seinem Büro.

"Ist es das, was du die letzten Wochen getan hast? Deine Arbeit vernachlässigt und deine Mitarbeiterinnen gevögelt?!", brüllt Theodore so laut, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt habe.

Mein Herz rutscht mir in die Hose.

Entweder redet er gerade über mich, was bedeuten würde, dass die Situation so viel schlimmer ist, als wir hätten erahnen können, oder er redet über eine andere Mitarbeiterin, mit der Chris tatsächlich mehr hatte.

Ich weiß nicht, was ich schlimmer finden würde.

Natürlich sollte es ersteres sein. Sollte es wirklich heißen, wir hätten miteinander geschlafen, dann war's das. Vor allem für mich.

Aber ich kann nicht darüber hinwegsehen, dass ich vielleicht doch nicht die einzige war, die Chris seines Vertrauens würdig gehalten hat. Nenn es Stolz oder Ego, mir egal. Was auch immer es ist, es lässt mich schwer schlucken und defensiv einen Schritt nach hinten machen.

"Ich habe mit niemandem geschlafen!", verteidigt Chris sich, das leichte Brechen in seiner Stimme ein klares Zeichen seiner Verzweiflung.

Mein Atem stockt.

"Ach, nein?", ertönt Suzanne's Stimme. "Auch nicht mit Giulia?"

Ich will mich umdrehen und rennen. Einfach weg von hier.

Ich kann mein Gesicht nie wieder vor Theodore oder Suzanne zeigen. Sie denken, ich hätte mit ihrem Sohn geschlafen. Meinem Chef.

Und sie sind nicht die einzigen. Irgendwoher muss dieses Gerücht ja kommen.

Gerade, als ich meine Beine in Bewegung setzen möchte, hält Chris' Stimme mich davon ab.

"Wir haben nicht miteinander geschlafen", antwortet er, seine Stimme sicher und fest.

"Und zwischen euch lief auch nichts anderes?", fordert Suzanne ihn heraus.

Seine Stille darauf ist die lauteste Antwort.

"Verdammte Scheiße, Christian!"

Das war's. Es ist raus.

Wenn Suzanne und Theodore darüber Bescheid wissen, dann weiß es jeder.

Es ist vorbei. Meine Zeit in dieser Firma ist vorbei.

"Was zur Hölle habt ihr euch dabei gedacht?!" Theodore's laute Stimme lässt mich zusammenzucken.

"Giulia kann nichts dafür. Ich habe sie geküsst", nimmt Chris mich in Schutz. "Lasst sie daraus. Ihr wisst ganz genau, was mit ihr passieren würde, wenn die anderen davon erfahren."

"Zu spät. Darüber hättet ihr früher nachdenken sollen. Was denkst du, woher dein Vater und ich davon wissen?"

Noch nie in meinem Leben bin ich so schnell gerannt, wie in diesem Moment. Ich bin mir sicher, mir durch meine hektische Bewegung irgendeinen Muskel gezerrt, oder Nerv gerissen zu haben, doch der Schmerz in meinem linken Bein ist nichts im Vergleich zu dem Druck in meiner Brust.

Ich renne einfach. Vorbei an meinem Büro, in dem meine ganzen Sachen liegen. Vorbei an dem Pausenraum, aus dem Stimmen zu hören sind, die wahrscheinlich gerade alle über dasselbe reden. Ich renne, bis ich an meinem Auto angekommen bin, dankbar darüber, meine Autoschlüssel im Stress heute Morgen wenigstens ein einziges Mal in meine Hosentasche gesteckt, statt in meine Handtasche geworfen zu haben.

Erst, als ich vor dem Lenkrad sitze, fällt mir auf, dass ich noch immer die Mappe in der Hand halte, die ich eigentlich Chris hätte geben müssen.

Das ist jetzt egal. Alles ist egal, wenn ich nicht nur um meinen Job, sondern auch um die Stabilität, die er mir in mein Leben gebracht hat, bangen muss.

Ich werfe die Mappe neben mir auf den Sitz und starte den Motor. Meine Reifen quietschen beim anfahren, und es ähnelt dem Schreien der Stimmen in meinem Kopf.

Wenn ich nicht gekündigt werde, dann muss ich kündigen. Wie soll ich denn jemals wieder so tun, als wäre nichts gewesen? Egal was passiert, ich weiß, was die anderen jetzt über mich denken.

Wo Unsere Seelen AtmenWhere stories live. Discover now