Kapitel 16

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Giulia

Ich kann es nicht mehr abstreiten.

So langsam werde ich unruhig.

Am Anfang war die ganze Sache noch ziemlich lustig. Es hat Spaß gemacht, einfach mitzuspielen und so zu tun, als würde ich nicht wissen, wen Chris geküsst hat.

Aber inzwischen weiß so ziemlich jeder hier darüber Bescheid, und sie reden über nichts anderes mehr.

Mit jedem Wort, das gesprochen wird, fürchte ich mich immer mehr. Was ist, wenn als Nächstes mein Name fällt?

Irgendjemand wird herausfinden, dass ich es war. Vielleicht hat ja doch einer von ihnen mitbekommen, dass Chris und ich auf der Abschiedsfeier für Theodore zusammen für ein paar Minuten verschwunden sind. Wohlmöglich war ich an Chris' Geburtstag doch zu voreilig und habe nicht gründlich genug nachgeschaut, ob wirklich keiner mehr in der Firma war.

Manchmal habe ich sogar das Gefühl, sie wüssten bereits Bescheid. Ich bilde mir ein, ihre misstrauischen Blicke in meinem Augenwinkel sehen zu können, jedes Mal, wenn sie darüber reden.

Chris meint, ich soll mir keine Sorgen darum machen. Er hätte anscheinend mit Lex geredet und ihm gesagt, dass dieses Thema sofort ein Ende finden soll.

Entweder hat er das nur gesagt, um mich zu beruhigen, oder es hat einfach nicht funktioniert.
Was auch immer von beiden es ist, das ist egal.
Es macht die Situation nämlich nicht besser.

Mit einem flauen Magen und unruhigen Händen, die ich in meiner Jackentasche verstecke, mache ich mich auf den Weg in mein Büro. Ich denke nicht, diesen Tag ohne kleines Hilfsmittel überstehen zu können. Und das ist in Ordnung.
Ich sollte mich nicht dafür fertig machen, wie mein Gehirn funktioniert, oder wie mein Nervensystem auf Gewisse Dinge reagiert. Es ist einfach anders, aber dafür kann ich nichts. Ich habe es mir nicht ausgesucht.

Natürlich gibt es Momente, in denen ich mich noch immer frage, warum gerade ich? Inzwischen habe ich jedoch eingesehen, dass diese Gedanken meine Situation nicht verändern werden. Ich kann weinen und schreien, um mich treten und schlagen, und im Endeffekt wird es mir nichts anderes bringen, als Traurigkeit und Selbstisolation. Es ist eine psychische Erkrankung, mit der man durch angemessener Behandlung irgendwann besser umgehen kann, doch vollständig heilbar ist sie nicht.

Meine Hoffnung liegt in mir selbst. Ich kann die Angst bewältigen. Ich kann mir die Macht zurückholen.

Vor gerade mal einem Jahr hätte die Angst mich lähmen können. Wäre ich so aufgewacht, wie heute Morgen—mit zerreißender Übelkeit und bedrohlicher Enge in meiner Brust, dann hätte das für mich Abschattung von der Außenwelt zur Folge gehabt. Natürlich wäre dieses Gefühl schlussendlich dadurch nur noch gewaltiger geworden.

Also bin ich aufgestanden, ins Badezimmer gerannt und habe rausgelassen, was raus musste. Ich habe mich unter die kalte Dusche gestellt und so lange tief ein und wieder ausgeatmet, bis es weniger weh getan hat. Ich habe mir Gedanken über mein Outfit gemacht, mir extra viel Mühe bei meinem Make-Up gegeben und meine Haare zur Abwechslung in einen hohen Zopf gesteckt.
Auf dem Weg hierhin habe ich Musik gehört, die mich an warme Sommerabende erinnert.

Bei meiner Ankunft an der Firma war mein erster Instinkt, einfach wieder umzudrehen und nach Hause zu fahren. Stattdessen bin ich ausgestiegen und habe die brüllenden Stimmen in meinem Kopf umarmt. Sie würden nicht verschwinden, wenn ich alleine wäre. Sie würden mich in den Abgrund ziehen.

Ich glaube an das, was ich sehe. Meine Angst versucht mir Dinge einzureden, die noch gar nicht passiert ist.

Ich kann dieser Situation nicht auf ewig aus dem Weg gehen. Früher oder später wird sie mich einholen. Wenn nicht heute, dann nächste Woche. Wenn nicht nächste Woche, dann nächsten Monat.

Wo Unsere Seelen AtmenTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon