Kapitel 18

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Chris

"Was ist denn?", höre ich ihn verwirrt hinter mir, ignoriere ihn jedoch und laufe einfach weiter bis um die Ecke.

"Chef-"

Ich bleibe so abrupt stehen und drehe mich um, dass Lex nach hinten ausweichen muss, um nicht direkt in mich hinein zu laufen.

"Ich habe mitbekommen, wie du dich deinen Kolleginnen und Kollegen gegenüber verhältst", verallgemeinere ich die Sache vorerst, damit er nicht sofort darauf kommt, um wen es geht.

Und wenn, dann soll es durch sein eigenes, freiwilliges Geständnis passieren. So muss ich Giulia nicht verraten.

"Sie hat also geredet", stellt er fest.

Sein Verhalten ist absolut reuelos und abstoßend. Er scheint wirklich noch zu denken, die Gerechtigkeit würde auf seiner Seite stehen.

"Keiner hat reden müssen. Das hast du von ganz allein erledigt", nehme ich Giulia in Schutz.

Mein gegenüber verzieht sein Gesicht verwirrt.

"Ich habe dein Gespräch mit Kaan vor ein paar Wochen mitbekommen. Als ich vorhin auf den Weg in mein Büro war, habe ich dich und Giulia gehört."

Der Ernst der Lage scheint ihm endlich bewusst zu werden. Die Arroganz ist mit einem Mal aus seinem Gesicht gewichen.

"Zuerst wollte ich nichts sagen, weil ich mich gefragt habe, wie verzweifelt du wohl sein musst, um in deinem Alter noch irgendwelche Lästereien zu verbreiten. Ich hatte wirklich Mitleid mit dir", schießen die Worte nur so aus mir heraus.

Meine eigene Stimme klingt für mich völlig fremd. In meinen verrücktesten Träumen hätte ich mir niemals erdenken können, jemals so mit anderen zu reden. Dann wiederum bin ich zuvor auch noch nie so einer Respektlosigkeit gegenüber getreten. Es gibt für alles ein erstes Mal, schätze ich.

"Aber dann habe ich heute gemerkt, dass du scheinbar andere Menschen runtermachen musst, um dich selbst größer zu fühlen."

Stille. Er sagt nichts. Er sieht mich ja nicht einmal an. Sein Blick ist auf einen Punkt hinter mir gerichtet.

"Ist das nicht so, Alexander?", versuche ich, seine Aufmerksamkeit wieder auf mich zu richten.

Darauf schüttelt er bloß seinen Kopf.

"Plötzlich kannst du nicht mehr reden?"

Ich hasse es, in dieser Machtrolle zu stecken. Noch nie war ich einer von denen, die leicht zu reizen oder einfach aufbrausend waren. Viel eher habe ich mich zurückgezogen und Menschen einfach frei gelassen, über mich zu denken, was sie wollten. Ändern kann man daran sowieso nichts. Es ist egal, was man sagt. Sie hören eh nur das, was sie hören wollen.

Aber hierbei geht es nicht nur um mich. Hier geht es auch um Giulia. Für sie steht so viel mehr auf dem Spiel, als für mich.

So schrecklich es auch ist, so etwas überhaupt zu denken, wissen wir alle, wer von uns beiden besser davon kommen würde. Der unterschied fängt bei unserem Geschlecht an. Es ist unfassbar traurig und absurd, aber es ist leider die Wahrheit. Wäre Giulia ein Mann und ich eine Frau, würde man ihr wahrscheinlich dafür applaudieren. Sie würde gefeiert werden.

Es gibt noch viel zu viele Menschen auf dieser Welt, die so denken wie Lex. Ich muss einfach davon ausgehen, dass einige von ihnen hier arbeiten. So vorsichtig mein Vater auch bei der Auswahl seiner Mitarbeiter war, man kann ihnen eben nur vor die Stirn gucken.

Wenn ich also verhindern kann, dass anderen überhaupt die Möglichkeit geboten wird, so über Giulia zu denken, dann werde ich alles dafür tun.

Nicht, weil sie einen Ritter in strahlender Rüstung braucht, sondern eher, weil ich zu einer einzigen Sache fähig bin, die niemand - egal, mit wie viel Berufserfahrung - im Moment in dieser Firma hier bewirken kann; ich kann Lex seinen Job kosten.

Drohungen waren für mich immer scheiternde versuche, sich den Respekt von anderen einzuholen. Wenn man ihnen Dinge vorhalten muss, die man tun kann, dann hat man schon längst verloren.

Und dennoch mache ich einen Schritt in seine Richtung und senke meine Stimme.

"Sollte ich noch ein einziges Mal mitbekommen, dass du deinen Kolleginnen und Kollegen auf solch eine abscheuliche Art und Weise gegenübertrittst, dann kannst du deine Sachen packen. Das verspreche ich dir."

Mit diesen Worten verschwinde ich.

Mein Herz rast, und ich habe das Gefühl, mein Blut pumpt um das dreifache schneller durch meine Adern. Selbst meine Hände kribbeln so kräftig, dass ich sie ein paar Mal hintereinander zu Fäusten ballen und dann ausstrecken muss.

Ich habe nicht nur so reagiert, weil es um Giulia geht.
So ein Verhalten wie von Lex kann einfach nicht geduldet werden. Punkt. Es hätte hierbei um jede X-beliebige Person gehen können, und ich hätte ihm trotzdem klargemacht, dass es das erste und letzte Mal war, wie er sich verhalten hat.

Mit Giulia macht es die Situation jedoch persönlicher. Das kann und will ich nicht abstreiten. Natürlich bedeutet mir ihr Wohlsein besonders viel. Sie ist das Nähste an einer Freundschaft, die ich außerhalb von meinen Geschwistern habe.

Mit einem befremdenden Gefühl öffne ich die Tür meines Büros.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Lex für den Moment ruhig gestellt ist. Und auch, wenn es nicht rückgängig machen kann, was er Giulia vorgeworfen hat, hoffe ich trotzdem irgendwie, dass ihr das wenigstens ein kleines bisschen ihrer Sorge nehmen kann.

Erst, als ich die Tür wieder hinter mir schließe und meinen Blick hebe, wird mir klar, dass das nicht ist, worüber ich mir gerade Gedanken machen sollte.

Viel eher sollte ich überlegen, wie ich ihr das erklären kann.

Giulia steht hinter meinem Schreibtisch, mein aufgeschlagenes Skizzenbuch in ihren Händen.

Ich weiß sofort, welche Seite sie gerade mit zusammengezogenen Augenbrauen ansieht.
Die, an der ich schon seit Tagen arbeite.

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