Kapitel 19

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Giulia

Meine Lippen.

Das sind meine Lippen.

Es könnte nicht offensichtlicher sein. Dafür ist der Schönheitsfleck an der Kontur meiner Oberlippe viel zu deutlich dargestellt.

Chris hat meine Lippen gezeichnet.

Ich spüre seinen Blick auf mir, kann meinen jedoch nicht heben. Ich schaffe es nicht, von der Zeichnung in meiner Hand wegzusehen.

Nicht einmal eine Kamera hätte solch atemberaubende Details einfangen können, und Chris hat es mit seinen bloßen Händen gezeichnet, als wäre es nichts.

"Giulia", kann ich ihn panisch sagen hören.

Eigentlich wollte ich nicht hinter seinem Rücken an seinen Schreibtisch gehen, aber ich habe die Taschentücher erkannt, die ich ihm vor ein paar Tagen aus Spaß zugeworfen habe. Und - sagen wir mal so - nach dem ganzen weinen habe ich sie wirklich dringend gebraucht. Ich habe mindestens so viele Tränen durch meine Nase verloren, wie durch meine Augen.

Gerade, als ich mich gebückt habe, um das Taschentuch in der Mülltonne unter dem Tisch entsorgen zu können, ist mir das geöffnete Skizzenbuch aufgefallen.

Zuerst war ich mir nicht sicher, ob es sich bei diesem Bild auch wirklich um meine Lippen handelt. Ich wollte nicht zu voreilig oder selbstüberzeugt sein. Wir haben immerhin schon lange nicht mehr darüber geredet, was passiert ist. Es schien alles normal. Ich habe sogar angefangen daran zu zweifeln, ob Chris sich überhaupt noch daran erinnert. Er kann einfach viel zu gut mit allem umgehen. Es ist unfair.

Aber die einzigen Personen, die auf den Schönheitsfleck an meiner Oberlippe aufmerksam werden können, sind die, die mir so nah kommen, dass nicht mal mehr ein Blatt zwischen uns passen würde. Menschen, die mich küssen. Bis jetzt waren das Chris und mein Ex-Freund von vor sechs Jahren, Devin.

Nicht einmal Izzy ist es jemals aufgefallen.

"Es tut mir so leid", reißt Chris' verzweifelte Stimme mich aus meinen Gedanken.

Ich sehe endlich hoch, mein Herz in meinem Hals.

Seine Arme hängen reglos neben seinem Körper, sein leicht gerötetes Gesicht dafür umso lebendiger.

Als seine Augen meine treffen, schluckt er schwer.

"Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll", kommt es von ihm, seine Stimme so bemitleidend hilflos.

Ich frage mich, ob er weiß, dass es mir gerade genauso geht.

In mir herrscht etwas unerklärliches, was für das Kribbeln in meinem Körper verantwortlich ist. Mein Bauch, meine Hände. Nichts bleibt verschont.

Ich sehe wieder auf die Zeichnung in meiner Hand. Vielleicht habe ich mich ja doch vertan und mir nur irgendwas eingebildet.

Aber nein.

Es sind immer noch meine Lippen, gezeichnet von Chris' Händen.

"Lia", versucht er, meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. "Es-"

"Ich wusste nicht, dass du noch daran denkst", falle ich ihm ins Wort und sehe hoch.

Er steht noch immer vor der verschlossenen Tür und sieht mich an, als könnte er nicht glauben, was ich gerade gesagt habe.

Wo Unsere Seelen AtmenWhere stories live. Discover now