Kapitel 9

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Chris

Ich dachte wirklich, die Sache mit Giulia zu klären würde die Dinge einfacher machen.

Ich meine, wir verstehen uns gut. Sehr gut, sogar. Zwischen uns steht nichts unangenehmes.
Man könnte fast schon denken, der Kuss wäre nie passiert.

Und genau das ist das Problem, denn er ist dennoch alles, woran ich denken kann.

Es ist nicht einmal so, dass ich Giulia ununterbrochen sehe oder mit ihr rede. Und wenn doch, dann ist es locker und ungezwungen.

Aber da ist eben auch dieses andere Gefühl.

Dieses was, wenn.

Was, wenn ich den Kuss im Fahrstuhl nicht unterbrochen hätte?
Was, wenn ich sie bei unserer nächsten Begegnung einfach zu mir ziehen und wieder küssen würde?

Mir ist bewusst, dass diese Fragen unbeantwortet bleiben müssen. Auch, wenn ich mich wirklich nicht in der Chefrolle sehe, ändert es nun mal eben nichts daran, dass ich mittendrin stecke.

Giulia sagt zwar, dass sie sich nicht unwohl deswegen fühlt, doch wir befinden uns in einer klaren Machtverteilung, und ich würde das niemals ausnutzen wollen.

Es ist bloß so einfach, mit ihr zu sein.

Unser kurzes Aufeinandertreffen im Pausenraum ist seit Wochen jeden Tag das einzige, worauf ich mich wirklich freuen kann. Den Rest der Zeit schlendere ich wie ein Roboter durch die Gegend und erledige, was man eben von mir erwartet, doch sobald ich sie sehe, denke ich nur noch an meinen nächsten Schachzug und was ich sagen könnte, um ihr Lachen zu entlocken.

Auch heute finde ich sie wie immer im Pausenraum auf.

Etwas ist bei diesem Mal jedoch anders.

Mein Kopf ist völlig leer. Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren, als auf ihre Lippen, die in dem selben Rot getränkt sind, wie sie es auf der Feier waren.

Lange habe ich versucht herauszufinden, was an diesem Abend in mich gefahren ist. Ich bin niemand, der Frauen einfach küsst, ohne sie wirklich zu kennen. Für mich war mein Verhalten genauso neu.

Die Antwort auf meine eigene Frage wurde immer klarer, als dieses Rot ständig wieder vor meine Augen getreten ist.

Giulia's Lächeln allein ist unfassbar ansteckend und hell, aber gezeichnet durch die Farbe auf ihren Lippen wird es fesselnd.

Ich bin kurz davor, mich einfach wieder umzudrehen und zu gehen, doch im selben Moment entdeckt sie mich.

"Landry!", winkt sie mich euphorisch zu sich. In letzter Zeit nennt sie mich immer öfters bei meinem Nachnamen.

"Fox", nicke ich anerkennend und laufe vorsichtig zu ihr rüber. Auch ich verzichte ab und zu auf ihren Vornamen.

"Ich heiße Foxton", korrigiert sie mich enttäuscht, so wie sie es in den vergangenen Wochen jeden Tag getan hat, zieht aber währenddessen einen Stuhl von dem Tisch, an dem sie sitzt, damit ich neben ihr Platz nehmen kann.

"Oh", sage ich bloß, zucke mit den Schultern und setze mich. "Meine Version gefällt mir besser."

Unsere Gespräche bestehen eigentlich nur daraus, so fies zueinander zu sein, wie wir nur können, um unser kleines Spiel zu gewinnen. Keine Ahnung, wer überhaupt damit angefangen hat, aber es ist erfrischend, dass sie die einzige ist, die sich nicht sofort verkrampft, wenn ich einen Raum betrete.

"Das trifft mich jetzt wirklich", antwortet sie darauf und schiebt ihre Unterlippe gespielt beleidigt hervor, worauf ich mich verlegen räuspere und meinen Blick von ihr abwende.

Wo Unsere Seelen AtmenWhere stories live. Discover now