Kapitel 11

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Giulia

Mein Körper hört auf, zu funktionieren.

Meine Arme hängen leblos neben meinem Körper. Anstelle meines Magens befindet sich ein großes Loch. Und auch meine Lippen sind völlig taub und nutzlos.

Erst, als Chris den Kuss unterbricht und etwas nach hinten ausweicht, um mich ansehen zu können, realisiert mein Körper, was er gerade verpasst hat.

Das war's, denke ich. Er hat mir eine neue Chance gegeben, und ich habe sie nicht genutzt.

Ich warte fast schon darauf, dass er sich von mir löst und mir beweist, dass ich richtig in meiner Vermutung liege.

Stattdessen hält er mich weiter an seine Brust gedrückt, etwas abwartendes in seinen geduldigen Augen. Und es ist dieses pure, aufleuchtende Verständnis in dem tiefen Blau, welches mich dazu bringt, die Sachen in meinen Händen einfach fallen zu lassen, damit ich nach seinem Gesicht greifen und es runter zu meinem ziehen kann.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das Lächeln auf seinen Lippen dabei nur einbilde, doch als ich es dann an meinen Lippen spüre, ist es eindeutig.

Die Kräfte, die mich gerade verlassen haben, arbeiten jetzt auf Hochtouren. Meine Arme schlingen sich um seinen Nacken und ziehen ihn immer weiter zu mir, bis Chris seinen Griff um mich verstärken muss, um uns beide davor zu bewahren, nach hinten zu stürzen.

Er lacht leise in den Kuss hinein, wobei sein frischer, minziger Atem mich trifft und mir meinen raubt, und drängt mich nach hinten, bis sein Arm um meinem Rücken durch eine Wand ersetzt werden kann. Während eine feste Hand sich an meine Taille legt, stützt die andere sich neben meinem Kopf ab.

Das Loch anstelle meines Magens ist verschwunden und wurde von einem qualvollen Kribbeln ersetzt, welches bis in meine Beine geht und mich zittrig stehen lässt. Ich muss mich mit meiner linken Hand an Chris' Arm festkrallen, um nicht wegzukippen.

Und das Gefühl in meinen Lippen ist mit einem Mal so stark zurückgekommen, dass es bereits schmerzt.

Viele behaupten, dass der erste Kuss zwischen zwei Menschen oftmals unangenehm ist, weil sie noch nicht aufeinander abgestimmt sind. Sie wissen nicht, in welcher Geschwindigkeit sie ihre Lippen bewegen sollen, oder wann und wie sie ihren Kopf zur Seite drehen müssen. Ob sie es überhaupt tun sollen.

Ich kann mit Stolz sagen, dass sie falsch liegen.

So, wie Chris und ich einander küssen, gibt es den Anschein, als würden wir einander seit Jahren kennen und niemals etwas anderes getan haben.

Und wenn wir nicht aufpassen, dann werden wir auch niemals wieder etwas anderes tun.

"Giulia", flüstert er gegen meine Lippen und lässt uns langsam und gekonnt zu einem Halt kommen, als hätte er genau dasselbe gedacht.

Es endet damit, dass er zwei unschuldige Küsse auf meine Lippen legt und seine Stirn dann an meine lehnt.

Währen wir nicht alleine, würden selbst die im Erdgeschoss unsere schwere Atmung noch hören können.

"Sind wir jetzt quitt?", verlässt es ihn rau mit einem kurzen, kehligen Lachen.

Verlegen lächelnd nicke ich, was ihn dazu bringt, mich anzusehen.

Erst jetzt fallen mir seine ganz leicht angeschwollenen Lippen auf. Als er eine Hand auf meine Wange legt und mit seinem Daumen über meine Unterlippe streicht, kann ich nur davon ausgehen, dass ich ähnlich aussehe.

"Geh nachhause", spricht er leise und auf eine Art besorgt vor sich hin. Als hätte er Angst davor, was passieren könnte, wenn wir noch länger zusammenbleiben.

"Nein", sage ich, denn ganz im Gegenteil zu ihm möchte ich wissen, was auch nur eine weitere Minute zusammen auslösen könnte.

"Giulia", warnt er mich.

"Chris-"

"Wenn ich jetzt nicht aufhöre, dann höre ich wahrscheinlich niemals auf."

Oh.

Oh.

"Und wir beide wissen, dass das nicht geht."

Er hat Recht. Natürlich hat er das.
In diesem Zustand würde ich ihn bei allem zustimmen.

Genau deswegen nicke ich verstehend. Auch, wenn ich ihn gerade dafür verfluche.

Es ist ja nicht so, als hätte ich gehofft, ihn morgen zu heiraten. Aber ich bedauere auch nicht, was passiert ist.

"Ich bereue weder den ersten, noch diesen Kuss", sagt er, als hätte er meine Gedanken lesen können. "Und ich möchte auch nicht so tun, als wäre nichts passiert."

"Ich auch nicht", schießt es stolz auch mir heraus.

Chris lächelt zufrieden. "Okay, dann sind wir uns einig."

"Sind wir."

Er lässt mich los und macht einen Schritt zurück.

Schon jetzt kommt in mir das Bedürfnis auf, einfach nach ihm zu greifen und ihn wieder zu mir zu ziehen. Aber das geht nicht, also hebe ich meine Sachen vom Boden auf und ignoriere seinen Blick auf mir, als ich meine Jacke anziehe.

"Danke, Giulia", kommt es von ihm.

"Wofür?", stelle ich mich ahnungslos und erreiche mein Ziel, als er seine Augen verdreht und den Kopf schüttelt.

"Geh einfach", sagt er gespielt genervt, doch das Lächeln auf seinen Lippen verrät ihn.

"Wow. Zuerst küsst du mich, und dann schmeißt du mich raus?"

"Oh mein Gott!", lacht er. "Das habe ich nur getan, damit du dich an mir rächen kannst!"

Ich lege meinen Kopf schief. Chris zögert einen Moment.

"Okay, habe ich nicht", spricht er leise vor sich hin. "Vielleicht hat dahinter auch etwas Egoismus gesteckt."

Darauf kann ich nichts sagen, bloß vom einen bis zum anderen Ohr grinsen und innerlich den Kopf über mich selbst schütteln.

Ganz unüberlegt, was wir hier gerade tun. Es ist nur schwer, mit Logik über irgendetwas nachzudenken, wenn es sich so gut anfühlt.
Aber ich meine, es muss ja nicht wieder komisch werden. Wir machen einfach weiter, wie davor. Und jetzt, wo ich weiß, dass wir wirklich quitt sind, wird es mit Sicherheit einfacher, über das alles hinwegzublicken.

Mit dieser leichtsinnigen Sicherheit drehe ich mich um und gehe.

"Du willst also einfach so verschwinden?!", ruft Chris mir mit verstellt enttäuschter Stimme hinterher.

Ich sehe über meine Schulter zu ihm.

"Jetzt lasse ich dich nach unserem Kuss stehen!", antworte ich.

"Sehr gut, Lia!", lacht er. "Der Punkt geht an dich."

Der vorübergehende Sieg schmeckt zwar gut, doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich davon nicht lange etwas haben werde.

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