Kapitel 22

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Chris

Seit fünf Tagen ist Giulia jetzt schon nicht mehr zur Arbeit gekommen. Genau seit dem Tag, an dem nicht nur meine Eltern, sondern auch die anderen herausgefunden haben, was zwischen uns passiert ist.

Für einen Moment habe ich wirklich geglaubt, dass sie sich eine Erkältung eingefangen hat, doch der Gedanke ist so schnell wieder verflogen, wie er gekommen ist.

Inzwischen weiß so wirklich jeder in der Firma darüber bescheid, dass Giulia und ich uns geküsst haben. Die Blicke und Lästereien können ihr natürlich auch nicht entgangen sein. Immerhin geben die anderen sich keine Mühe, wenigstens so zu tun, als würden sie nichts wissen. Jedes Mal, wenn ich einen Raum betrete, schießen ablehnende Blicke in meine Richtung. 

Und ich verstehe es. 

Ich bin sowieso schon der neue Chef, den niemand wollte. Meine Anwesenheit ist unerwünscht. Das habe ich natürlich nicht besser gemacht, indem ich anderen das Gefühl vermittelt habe, meine Arbeit nicht ernst zu nehmen und nur aus einem einzigen Grund hier zu sein. 

Den Leuten hier liegt etwas an ihrer Arbeit, weil es auch die Arbeit meines Vaters war. Er hat ihnen nahgelegt, wie wichtig es ist, was sie tun. Gewiss möchten sie sich das nicht nehmen lassen. Sie haben keine Lust auf jemanden, der ihre Arbeit einfach abtut.

Ich bin in der Lage, das alles einzusehen. Irgendwie stimme ich ihnen sogar zu. 

Aber das heißt nicht, dass ihr Verhalten dadurch gerechtfertigt ist. Erst recht nicht Giulia gegenüber. Wenn sie sich in meiner Anwesenheit schon so benehmen, dann will ich mir gar nicht vorstellen, was für ein Gefühl sie ihr gegeben haben.

Gestern erst habe ich überhört, wie Lucy zu jemandem meinte, dass Giulia die anderen verraten hätte. Als wären wir in der fünften Klasse und jeder hätte sich gegen mich verschworen, was Menschen, die mich nicht völlig abstoßen auch zu ihren Feinden macht. Ich frage mich, ob ihnen bewusst ist, dass wir alle erwachsene Menschen mit freiem Willen sind.

Sie finden heraus, dass Giulia die Frau ist, die ich geküsst habe, und fangen daraufhin an, sie zu verurteilen? Obwohl ich doch derjenige war, der den ersten Schritt gemacht hat? Wenn das mal nicht alles über unsere Gesellschaft aussagt, dann weiß ich nicht, was es tun würde.

Auch, wenn ich Giulia erst seit zwei Monaten kenne, hat sie auf mich bis jetzt immer wie eine wirklich starke Persönlichkeit gewirkt. Was muss also vorgefallen sein, dass sie nicht einmal mehr zur Arbeit kommen möchte?

Das werde ich jetzt herausfinden. Genau deswegen stehe ich vor dem Büro, dass sie sich mit Izzy teilt.

"Herein!", ruft diese auf mein Klopfen.

Ich öffne die Tür, mein Blick instinktiv zu Giulia's leerem Platz schweifend. 

Das ist nicht richtig. Sie sollte nicht die Konsequenzen von meinen Handlungen tragen müssen.

"Oh, Christian, hey", kommt es überrascht von Izzy.

"Hey, hast du kurz Zeit?", frage ich unsicher. Keine Ahnung, was genau ich sagen soll, aber ich muss wissen, wie es Giulia geht. Ich denke nämlich nicht, dass ich jetzt die Person bin, von der sie unbedingt etwas hören möchte. Immerhin ist das alles meine Schuld.

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