1. Schauspiel (1/2)

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Montag, 15:47 Uhr, Bergstraße, Hagangre

»Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Evelyn, nachdem sie bereits zum dritten Male über den Rand ihrer AR-Brille hinweg einen Blick durch die Seitenscheibe des Automobils geworfen hatte.

Seit sie vor rund einer Viertelstunde die letzten Ausläufer der Stadt verlassen hatten, waren sie keiner Menschenseele mehr begegnet. Der Elektromotor gab einen nervig hohen Summton von sich, während sich das Fahrzeug entlang einer nicht enden wollende Kette von Serpentinen einen kargen Berg hochquälte. Aus der Ferne gesehen waren die Konturen der zahllosen Wolkenkratzer kaum mehr auszumachen. Evelyn kam die Megastadt von oben wie das Gespinst eines Betonpilzes vor, welcher zwar die ganze Insel befallen, aber einen ehrfürchtigen Bogen um diesen Berg gemacht hatte.

Diese felsige Einöde hatte ihr Klient also zu seiner zukünftigen Nachbarschaft erkoren? Evelyn war zwar von der Aussicht beeindruckt, aber bezweifelte, die Einsamkeit hier draußen auf Dauer ertragen zu können. Zum Glück blieb dies ein Gedankenspiel: ihr Zwillingsbruder begleitete sie und saß auf dem gegenüberliegenden Sitz.

Wobei, dachte sie, das macht keinen großen Unterschied. Wenn wir die Aliens dieses Planeten sind, dann ist er ein Alien unter Aliens.

Jerry hatte seit Fahrtbeginn kein Wort von sich gegeben, sondern hörte sich, den Blick dabei stur geradeaus gerichtet, den Song einer Power-Metal-Band über seine In-Ears an. In Dauerschleife. Evelyn bedeutete ihm durch einen Wink die Kopfhörer herauszunehmen und wiederholte ihre Frage.

Ihr Bruder überprüfte rasch das Display, das in der Konsole zwischen ihm und dem leeren Platz zu seiner Rechten eingelassen war. »Ich habe die Adresse eingegeben, die du mir genannt hast. 12N 143E?«

Sie nickte. Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Sollen wir die Details durchgehen?«

»Einverstanden«, gab Jerry zurück, stoppte die Wiedergabe und verstaute seine Kopfhörer fein säuberlich in einem Samtetui. Auch wenn sein maskengleiches Gesicht keinerlei Regung zeigte, wusste Evelyn, dass er es nicht leiden konnte, wenn man ihn bei einer seiner Lieblingsbeschäftigungen unterbrach. Einmal, im Kindergarten, hatte er einem Erzieher die Spitze einer Bastelschere vor die Brust gehalten, weil dieser die Malstunde für beendet erklärt hatte.

Indem Evelyn Zeigefinger und Daumen ihrer rechten Hand rechtwinklig vor sich ausstreckte, projizierte die AR-Brille, nur für sie sichtbar, eine stilisierte Akte in die Luft. Mit ihrer freien Hand blätterte sie durch die virtuellen Seiten und überflog ihre Notizen. Dabei fasste sie die wichtigsten Punkte für Jerry zusammen.

»Unser Klient heißt Monsieur de Claire. Den Kontakt hat uns die fälschlicherweise beschuldigte Hafenvorarbeiterin aus Downtown verschafft.«

»Du meinst die Geschichte mit der Kranbrücke?« - »Ja.« Die Erinnerung an diesen Fall ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Rasch fuhr sie fort: »De Claire hat vor kurzem eine Gründerzeitvilla erworben, in der er in Zukunft wohnen möchte. Wie er erst nach dem Kauf in Erfahrung brachte, wurde dort vor rund 130 Jahren der Hausherr ermordet.« Sie hob den Kopf und runzelte die Stirn. »130 Jahre. Sind wir überhaupt schon einmal so weit zurückgegangen?«

»Ich habe einmal versucht, die berühmte Kapitänsrede am Potemkin-Platz nachzustellen, aber es ist mir nicht gelungen«, gab Jerry zu bedenken, »und die fand vor 16 Jahren statt.«

Evelyn musste lächeln. »Das ist nicht dasselbe, Jerry. Über den Potemkin-Platz fahren täglich mehrere tausend Pendler. Der ist so stark kontaminiert, da würdest du nicht einmal einen fünf Minuten alten Anker wiederfinden.« Sie führte mit geübter Geste eine Textsuche durch und stieß auf die gewünschte Information. »Wenn die Daten aus dem Kaufvertrag stimmen, war das Haus seit dem Tod des Besitzers unbewohnt. Wenn wir Glück haben, hat abgesehen von ein paar Polizisten keiner mehr das Zimmer betreten, in dem das Verbrechen geschah. - Du weißt ja, wie stark die Anker bei Mord sein können.« Bei den Wörtern ›Anker‹ und ›Mord‹ kehrten wieder die Erinnerungen an den Kran zurück... Sie würde nie wieder vergessen, was der Begriff ›Laufkatze‹ bedeutete.

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