8. Trophäen

160 26 0
                                    

Dienstag, 10:46 Uhr, Zimmer 121, Spital Centraal, Hagangre

Alles war weiß, so blendend weiß, als sie die Augen öffnete und sich umsah. Evelyn lag in ihrer Straßenkleidung auf der Tagesdecke eines komfortablen Krankenhausbettes in einem Einzelzimmer. Allerlei Kabel und Schläuche liefen von einer Manschette an ihrem Handgelenk zu einer großen Maschine mit Blasebälgen und blinkenden Lichtern. Zu ihrer Rechten stand ein kleiner Beistelltisch, auf dem ein Strauß immerblühender Kunstblumen jenen Patienten Trost spenden sollte, die keine Besuche erhielten. Der Fernseher lief. Ihre Sicht war noch getrübt, doch schloss sie aufgrund der vielen blauen Bilder, dass es sich um eine Unterwasserdokumentation handelte. Ihr Bruder saß auf der Kante des Besuchersessels und verfolgte aufmerksam das Programm.

»Warum bin ich hier?«, fragte Evelyn und bereute sogleich, die Stimme erhoben zu haben, da ihr Rachen völlig ausgetrocknet war und sie sich wie ein krächzender Rabe anhörte. Rasch angelte sie mit ihrer freien Hand eine Wasserflasche vom Fußboden, die jemand vorsorglich dort platziert hatte.

Ihre Stimme brachte Blix dazu, sich vom großen Fenster abzuwenden, von dem aus er eben noch dem wirbelnden Spiel der rotbraunen Blätter im Hof des Spitals zugesehen hatte. Nun stützte er sich auf die Kante am Fußende des Bettes und fixierte sie mit einem Blick, in dem sich Sorge und Strenge mischten.

»Du hast eine Überdosis Ptelocevid eingenommen. Was hast du dir dabei nur gedacht?«

»Was glauben Sie denn, warum ich sowas tue?«, giftete sie zurück. »Mir ging es schlecht, okay? Ich hab' mir da keine Gedanken drum gemacht...«

»Jedenfalls hat es ausgereicht, um dir einen Mini-Schlaganfall zu verpassen. Du kannst von Glück sagen, dass du keine bleibenden Schäden davontragen wirst.«

Evelyns Trotzigkeit erstarb schlagartig, und sie sah beschämt zur Seite. »Das heißt, wenn Sie mich nicht ins Krankenhaus...«

»Dann wärst du vielleicht gelähmt, oder schlimmeres«, beendete er ihren Gedanken.

»Danke«, sagte sie kleinlaut.

»Schon gut. Da hat es sich ausgezahlt, dass ich während meines Studiums wenigstens beim Thema Drogen sehr aufmerksam war.«

»Sie haben Medizin studiert?«, fragte sie erstaunt. Diese Tatsache fand sich nicht in der offiziellen Selbstbeschreibung, die Blix auf seinem Blog veröffentlicht hatte.

»Humanbiologie«, brummte er schon etwas milder. »Nicht meine Entscheidung. War noch vor der Bildungsfreiheit.«

Das Wort hörte sie zum ersten Mal. »Bildungsfreiheit?«

»Als ich in eurem Alter war, durfte man nicht wie heute frei entscheiden, welchen Ausbildungsweg man geht. Den Beruf wählen, ja – aber was hat man da ungelernt schon groß zur Auswahl? Ich bin quasi durch Los in den Teil meines Jahrgangs gekommen, der zu Medizinern ausgebildet werden sollte.« Er schüttelte den Kopf. »Als wir die Bildungsfreiheit endlich erstritten hatten, war es für mich schon zu spät, nochmal neu anzufangen. – Du kannst ja mal deine Mutter fragen, ob sie sich immer schon gewünscht hatte, bei der IPÜ zu arbeiten.«

Das war eine berechtigte Frage. Evelyn hatte noch nie drüber nachgedacht, wie ihre Mutter zu diesem Beruf gekommen war. Sie besaß nicht die nötige Abgebrühtheit, die ein Job im Staatsschutz eigentlich erforderte. Tagaus, tagein sahen die stillen Beobachter dem Leid auf dem Kontinent zu, zur Untätigkeit verdammt wie verbannte Götter. Evelyn konnte sich nur schwer ausmalen, was das für ihre Mutter bedeutete. In Kindertagen hatte sie heimlich an ihrem Arbeitszimmer gelauscht und sie weinen gehört, aber nie wollte Johanna davon erzählen. Sie wechselte das Thema, wann immer Evelyn sie darauf ansprach. Es schien im Laufe der Jahre besser geworden zu sein, aber noch immer wirkte Johanna auf ihre Tochter abwesend und kalt.

MimesisWhere stories live. Discover now