19. Blinde Fracht

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Mittwoch, 16:15 Uhr, Konferenzraum 2, IPÜ-Zentrale, Hagangre

Johanna Oakley saß allein in einem Konferenzraum der IPÜ-Zentrale und wartete darauf, dass sich der Stein in ihrer Hand zu erwärmen begann, das Zeichen, dass Lesaja wieder Kontakt aufnehmen wollte. Fast jeden Tag kommunizierten sie über den Glühstein miteinander. Sie gab weiter, was sie in der Bildaufklärung in Erfahrungen bringen konnten: Bewegungen der Morsianischen Truppen, Wettervorhersagen, die aktuelle Situation in den Ferthischen Dörfern und Städten. Und auch wenn sie den anderen versprochen hatte, dass SQ sich nicht an den Kampfhandlungen beteiligte, musste sie sich eingestehen, dass ihr Land schon längst Teil dieses Krieges war. Ein Krieg, bei dem Johanna Partei für eine Seite ergriffen hatte, obwohl keiner die Folgen für den Planeten absehen konnte. Vor einigen Tagen hatte Lesaja um die Koordinaten eines Gebäudes tief im Osten Mors' gebeten, das sich Gläserne Kathedrale nannte, und kurz darauf sah sie auf den Satellitenbildern, wie es von einem hellen Lichtblitz dem Erdboden gleichgemacht wurde, auf dieselbe Weise wie zuvor das Frachtschiff vor der Farminsel. Sie wusste nicht, was es mit diesem Gebäude auf der Klippe auf sich hatte, oder wer es bewohnte, eines jedoch war sicher: Auch an ihren Händen klebte Blut.

Endlich glühte der Stein auf, und sie fuhr langsam nacheinander über die Gravuren des Runenbrettes, bis die Wärme am größten war. So ging es weiter, Zeichen für Zeichen, bis sie die Botschaft vollständig entschlüsselt hatte. Der Zauberer bat diesmal nicht um Informationen, sondern um Wasser. Ferth-Stadt, die Hauptstadt des Landes Ferth, würde gerade belagert. Die Kornspeicher seien gefüllt und reichten noch bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Verstärkung eintreffen würde; doch ihre Wasservorräte gingen zur Neige, und die Bevölkerung drohe zu verdursten.

Johanna antwortete, dass sie nicht helfen könne. Erstens durfte sie keine Ressourcen freigeben, zweitens drohten die Flugzeuge bei jeglichem Transport von Mors entdeckt zu werden. Doch Lesaja blieb hart in diesem Punkt; wie von Clincher vermutet brachte er wieder das Druckmittel des Verrats ins Spiel und setzte damit Johanna die Pistole auf die Brust.

›Ich bin in der Stadt‹, übermittelte er. ›Sie werden mich töten. ich schwöre dir, Anna, wenn du mir diese Bitte erfüllst, lasse ich dich und dein Volk für immer in Ruhe.‹

Wahrscheinlich hielt er sein Versprechen nicht, doch Johanna hatte die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass sich in Lesaja noch Spuren davon fanden, wie er früher gewesen war; frech und ehrgeizig, ja, aber auch barmherzig und treu.

›Hilfe ist unterwegs‹, sandte sie zurück.

Mittwoch, 16:34 Uhr, Bildaufklärung (IMINT), IPÜ-Zentrale, Hagangre

Die Satellitenbilder zeigten den Ernst der Lage in Ferth-Stadt. Rund um die drei Mauern lagerten die Angreifer in großen Zelten. Bliden schleuderten unablässig Steine in Richtung des äußersten Tores. Direkt über der Stadt kreisten vier Drachen, welche die Stabilität des magischen Schildes erprobten. Die Aquädukte führten allesamt kein Wasser mehr, da sie entlang ihres Laufs von den Bergen durch Morsianische Soldaten sabotiert worden waren.

»Kannst du mir Trinkwasser organisieren?«, fragte Johanna, ohne vom Bildschirm aufzusehen.

Sigurd Earl erhob sich von ihrem Platz. »Klar, wieviel Flaschen brauchst du?«

»Nicht für hier. Ich brauche Wasser für eine ganze Stadt.«

Sigurd verstand, und in ihren Blick mischten sich Sorge und Mitgefühl. »Du handelst gegen jede Anweisungen, oder? Das ist nicht mit Clincher oder dem Kapitän abgesprochen.«

Johanna knetete nervös mit den Händen. »Nein, ist es nicht. Du wirst mich doch nicht verraten...?«

Sigurd schüttelte mit dem Kopf, und Johanna setzte hinzu: »Du bist irgendwie die einzige, der ich noch vertrauen kann. Ich habe das Gefühl, du bist wie eine gute Freundin, mit der ich über alles reden kann.«

Sigurd schwieg und sah ihr auf dem Weg nach draußen lange hinterher. Erst als Johanna den Raum verlassen hatte, sagte sie: »Ich wünschte, es wäre wahr.«

Mittwoch, 19:04 Uhr, Hubschrauberlandeplatz, IPÜ-Zentrale, Hagangre

Johanna überwachte die Drohnenschwärme, die einen riesigen Wassertank nach dem anderen an langen Kabeln in die Lüfte hoben, um sie zum Kontinent zu fliegen und heute Nacht im Schutz der Dunkelheit in Ferth-Stadt abzuladen. Beim letzten Tank wies sie ihre Kollegen an, noch mit dem Start zu warten. Sie gab vor, die Befestigung an der Oberseite zu überprüfen. Als sie sich unbeobachtet fühlte, zog sie schnell einen Brief aus ihrer Strickweste und klemmte ihn in den Spalt der Tankluke. Es gab keine Garantie, dass er nicht auf dem Weg zu Lesaja hinausrutschen würde, aber es schien ihr die einzige Möglichkeit, ihm vorbei an der permanenten Überwachung durch die IPÜ die Wahrheit zu erzählen. Er hatte ein Recht darauf, nun mehr denn je.

Gerade als sie das Okay gab, die Drohnen nach oben stiegen, die Seile sich spannten und das Metall stöhnte, als der Tank sich vom Boden löste, klingelte ihr privates Mobiltelefon. Schnell entfernte sie sich von möglichen Mithörern, als sie die Nummer sah.

»Was willst du, Felix?« Vor einer Woche hatte er sich zum ersten Mal bei ihr gemeldet, kurz nachdem sie von Danh und den anderen erfahren hatte, dass er aus den Schatten getreten war.

»Hallo Schneevogel«, meldete sich am anderen Ende eine sehr vertraute Stimme. Ihr Herz setzte fast aus.

»Ich bedaure die ganze Situation sehr«, fuhr die Stimme fort, »aber deine Unvernunft lässt mir keine andere Wahl. Du wirst Jerry erst wiedersehen, wenn du die Aussage getätigt hast.«

»Was hast du mit meinen Kindern gemacht?« sagte Johanna gerade so laut, dass es keiner ihrer Kollegen mitbekam. »Sie haben mit der Sache nichts zu tun.«

»Es geht hier nicht mehr nur um dich und mich. Du kannst nicht wiedergutmachen, was du damals getan hast, aber es liegt in deiner Hand, weiteres Leid zu verhindern. – Die Beweise habe ich bei dir zu Hause deponiert. Ich warte.« Dann brach die Verbindung ab.

MimesisWhere stories live. Discover now