21. Katzen in der Krippe oder Der letzte Gang

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Donnerstag, 10:04 Uhr, Penthouse, Carlsgatan 73, Hagangre

Evelyn hatte die ganze Nacht nicht schlafen können, und sie war sich sicher, dass es Jerry ebenso ergangen war. Bis spät nach Mitternacht hatten sie versucht, ihre Mutter von ihrem Vorhaben abzuhalten, sich den Behörden zu stellen, doch Johanna blieb stur. Evelyn hatte ihre Mutter abwechselnd angefleht und beschimpft, bis sie schließlich in Tränen ausgebrochen war. Jerry hatte schneller eingesehen, dass sich nicht viel machen ließ, und im Internet nach Urteilen aus vergleichbaren Fällen gesucht und die hoffnungsvollsten Stellen vorgelesen. Ja, er hatte sich sogar als Rechtsbeistand angeboten, sollte seine Mutter keinen gescheiten Anwalt finden, womit auch er sich den Zorn seiner Schwester zusicherte.

Als Evelyn aufstand, um in der Küche eine Scheibe Brot zu essen, obwohl sie keinen Hunger hatte, kam sie im Wohnzimmer an den Beweisen vorbei, die sich noch fast an derselben Stelle befanden wie am Vortag. Grimmig schaute sie auf die rote Sprühfarbe auf dem Fußboden und die Datenwürfel auf dem Tisch. Am liebsten würde sie das alles auf der Stelle verbrennen, am besten damit auch alles aus ihrem Gedächtnis löschen, was sie seit der schicksalhaften Begegnung mit Robin Blix erlebt hatte. Sie wünschte, nie die Wahrheit über ihre Mutter erfahren zu haben. An der Kühlschranktür fand sie ein weiteres der Bilder, die der Shifter in der Wohnung verteilt hatte. Es zeigte einen Jungen am Strand, der über beide Ohren strahlend seine Sandburg präsentierte. Sie dachte daran, dass dieser Junge seinen Vater oder seine Mutter verloren hatte, und dass es noch vielen weiteren Kindern so ergehen würde, wenn das Mimesis-Projekt nicht gestoppt würde, und sie spürte einen Stich in ihrem Herzen.

In diesem Augenblick kam Johanna aus ihrem Schlafzimmer. Sie sah gesund und munter aus, ganz im Gegenteil zu der augenberingten Evelyn. Sie schien sich schick gemacht zu haben. Statt ihrer üblichen Strickweste trug sie einen roten Anzug, über dem eine Kette mit einem seltenen Stein hing.

»Ich würde gerne noch einmal mit euch durch den Park gehen«, sagte sie. Es klang nicht wie ein Vorschlag, eher wie der letzte Wunsch eines Sterbenden, und Evelyn nickte wortlos.

Donnerstag, 10:13 Uhr, Hortus Civium, Scheibenviertel, Hagangre

In der Parkanlage spielte eine Blaskapelle eine fröhliche Melodie, aber drei Personenwaren nicht in der geeigneten Stimmung. Jerry und Evelyn gingen Hand in Hand, ihre Mutter in der Mitte, über kleine Brücken, an Ententeichen und Blumenbeeten vorbei, und schwiegen. Um sie herum spielten kreischende Kinder, und Jogger in kurzen Hosen hetzten an ihnen vorbei. Sie nahmen davon keine Notiz. Am Streichelzoo hielt Jerry unvermittelt an, er verband einige Kindheitserinnerungen mit diesem Ort, und so blieben sie stehen und beobachteten stumm die Schafe und Ziegen, die durch das braune Laub auf der Wiese stapften. In einer der Futterkrippen hatte es sich eine Katze im Heu bequem gemacht und balgte mit ihren Jungen. Evelyn versuchte sich zu erinnern, wann sie und Jerry so ungezwungen mit ihrer Mutter gespielt hatten, doch ihr fiel kein Moment ein.

»Verzeihst du mir, Evelyn?«, fragte Johanna in die Stille hinein.

Es war eine schwierige Frage. Überhaupt war dieser ganze verfluchte Tag schwierig. »Ich weiß es nicht. Vielleicht später, oder in ein paar Jahren.«

»Irgendwann bestimmt?«

»Irgendwann bestimmt.«

Nach einer Pause sagte Johanna: »Weißt du, irgendwie bin ich froh, dass es so gekommen ist. Ich fühle mich, als wäre eine Riesenlast von mir abgefallen, jetzt wo ihr die Wahrheit kennt. Ich habe heute zum ersten Mal seit Jahren durchgeschlafen. Mir ist, als würde ich plötzlich nochmal zu leben anfangen, und das obwohl ich für lange Zeit ins Gefängnis gehen werde.« Sie drehte sich zu Evelyn um und grinste sie unsicher an. »Klingt irgendwie verrückt, oder?«

»Vielleicht gar nicht so sehr«, antwortete sie schulternzuckend. Nach einer Pause setzte sie nach: »Du hast uns doch alles erzählt, oder?«

Doch ihre Mutter hatte einen Eisstand entdeckt, fragte fröhlich: »Wer will Schokoladeneis?« und lief darauf zu. Evelyn war wirklich nicht nach Süßem zumute, und selbst Jerry schien nicht in der richtigen Stimmung dafür, doch ihrer Mutter zuliebe schleckten sie brav auf.

»Ihr kommt mich doch besuchen, oder?«, fragte Johanna, als sie sich zusammen auf eine Parkbank gesetzt hatten. »Im Gefängnis, meine ich.«

»Jeden Tag«, versprach Jerry, und Evelyn nickte.

»Am meisten bereue ich, dass ich euch keine gute Mutter sein konnte.«

Jerry und Evelyn sagten nichts, sondern legten die Köpfe auf ihre Schulter. Die drei schlossen die Augen und genossen die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut, und wünschten sich, dass dieser Augenblick nie enden würde.

Donnerstag, 11:50 Uhr, Penthouse, Carlsgatan 73, Hagangre

Als sie nach Hause zurückkehrten, erwartete sie eine Überraschung: Die ganze Wohnung war verwüstet. Jemand hatte die Schubladenfächer aus den Regalen gerissen, die Tür einer Glasvitrine lag zerbrochen auf dem Boden, zusammen mit Vasen und zerfledderten Büchern. In allen Räumen fehlten die Pads und Computer, selbst Evelyns Schulapparat war gestohlen worden. Von den Datenwürfeln und Fotos fehlte jede Spur. Nur der Schriftzug ›Für S‹ erinnerte noch daran, dass sich hier einst Beweise über das Mimesis-Projekt befunden hatten.

Die Lage war ernst. »Ich weiß nicht, wie sie davon erfahren haben«, sagte Johanna nervös, »aber ihr müsst sofort weg von hier.«

»Wieso?«, riefen Jerry und Evelyn im Chor.

»Wenn sie so weit gehen, dann werden sie auch nicht davor zurückschrecken, euch als Druckmittel gegen mich einzusetzen, wenn ich die Aussage tätige.«

»Aber kannst du überhaupt noch aussagen, ohne Beweise?«, fragte Jerry.

»Ich habe noch ein Ass im Ärmel«, sagte Johanna, und suchte in ihrem Arbeitszimmer nach etwas. »In meinem Bürosafe gibt es eine Tonaufnahme von Adler... ich meine, Clincher, wie er mit den Freiwilligen spricht.« Sie präsentierte einen alten Schlüssel. »Glück gehabt, die waren wohl nur auf Daten aus.«

Evelyn legte ihre Hand auf den Arm ihrer Mutter. »Ist es nicht gefährlich, jetzt zur IPÜ zu gehen?«

Johanna lächelte beschwichtigend. »Keine Sorge, sie können mich ja nicht am helllichten Tag auf offener Straße erschießen, und eine Entführung scheidet auch aus, dafür bin ich zu weit oben in der Befehlskette. Aber ihr, ihr müsst unbedingt verschwinden. Habt ihr einen Ort, wo ihr fürs erste untertauchen könnt?«

»Meine Freundin Narcisa nimmt mich sicher auf«, sagte Evelyn, »aber ich glaube nicht, dass sie das auch für Jerry tut...«

Doch zu ihrer Verwunderung sagte ihr Bruder: »Ich weiß, wo ich hingehen kann. Dort bin ich garantiert sicher, vertraut mir.«

»Gut«, sagte Johanna nickend. »Dann wird es Zeit für mich, Clincher ordentlich in den Hintern zu treten, und Projekt Mimesis für immer zu beenden.«

Und Evelyn war zum ersten Mal stolz auf ihre Mutter.

MimesisWhere stories live. Discover now