1. Schauspiel (2/2)

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Montag, 16:10 Uhr, Arbeitszimmer, Villa Karoling, Hagangre

Die Zwillinge befanden sich nun allein im Arbeitszimmer, dem Ort, an dem das Verbrechen geschehen war. Evelyn hatte es zur Bedingung gemacht, dass Monsieur de Claire das Zimmer unter keinen Umständen betrat, was auch immer er hören möge. Dies war ihre übliche Vorgehensweise, und der Mann hatte damit keine Probleme.

Das Zimmer war karg möbliert. Ein Schreibtisch samt Stuhl stand mit dem Rücken zum einzigen Fenster. Zwei Stahlregale bogen sich unter der Last zahlreicher Kisten, die randvoll mit Datenwürfeln gefüllt waren. Ein grauer, ebenfalls stählerner Tresor befand sich in einer Ecke des Zimmers auf dem Boden, die schwere Tür weit geöffnet. Im Inneren hatte sich eine Kreuzspinne häuslich eingerichtet; sonst war er leer.

»Gut«, sagte Evelyn, »fangen wir an.«

Es war vermutlich auch für die Beurteilung des Geisteszustandes der beiden vorteilhaft, dass Monsieur de Claire dem von ihnen nun dargebotenen Schauspiel nicht beiwohnte: Die Zwillinge gingen vorsichtig wie auf Zehenspitzen und mit geschlossenen Augen scheinbar planlos durch das Zimmer. An einigen Stellen verharrten sie, wiegten mit dem Oberkörper vor und zurück, oder trippelten zwischen zwei dicht beieinander liegenden Positionen hin und her.

Schließlich blieb Jerry so regungslos wie möglich unweit der Tür stehen. »Ich habe hier Wut. Siehst du ihn? Er ist blau.«

»Moment.« Evelyn kniff die Augen noch fester zusammen und drehte ihren Kopf in die Richtung, aus der die Stimme ihres Bruders gekommen war. Sie hatte mit ihrer Vermutung Recht gehabt; der Raum war kaum emotional kontaminiert. Mit Leichtigkeit konnte sie vor ihrem inneren Auge den Anker als kleine, blaue, in der Luft oszillierende Pyramide ausmachen, von der ein kaum wahrnehmbarer Strahl ausging. Sie folgte ihm und stieß mit dem Knie gegen die Schreibtischverkleidung. Nein, etwas stimmte noch nicht ganz, der Strahl schien über sie hinweg zu laufen. Vielleicht auf dem Tisch? Sie setzte sich auf dessen Kante und ließ die Beine herabbaumeln. Plötzlich empfand sie einen Anflug von Belustigung.

»Okay, ich glaube ich habe es auch. Bei mir ist es Spott.« Sie holte tief Luft. » Bereit?«

»Ja«, sagte Jerry, und gab sich dem Gefühl hin. Er spürte, wie er die Kontrolle über seine Glieder verlor, wie sie von einem unsichtbaren Puppenspieler geführt wurden. Seine Hände schossen nach vorne, verkrampft, die Handflächen parallel und aufeinander ausgerichtet; es kam ihm vor, als ob er einen imaginären Gegenstand trüge. Dann erfüllte ihn Zorn, was ihm, der Leidenschaften zumeist mit Unverstand begegnete, Unbehagen bereitete. Er musste die Stirn runzeln, ruckartig die Augen aufschlagen und seine Schwester mit vorgebeugtem Kopf fixieren.

Evelyn saß auf dem Schreibtisch. Auch sie hatte die Kontrolle über ihren Körper verloren, die Beine übereinander geschlagen, die Arme in die Hüften gestemmt, und starrte Jerry mit einem halben Lächeln kopfschüttelnd an. Sie verfolgte mit ihrem Blick, wie er, einem Pantomimen gleich, die Luftkiste unter sichtlicher Anstrengung auf den Tisch hievte.

»Nächstes Mal soll Peter die Drecksarbeit erledigen. Hab' sie alle gezählt! Die Stufen mein' ich. Das war'n 19 Stück, und ich verfluch' jede einzelne davon!« Es war Jerry, der sprach, aber es waren nicht seine Worte. Er wischte sich den nicht vorhandenen Schweiß aus der Stirn und drehte sich zu Evelyn um. »Könntest mir ruhig mal helfen. Was machste da überhaupt?«

»Du hast es doch schon geschafft«, sagte Evelyn spöttisch mit einer tieferen Stimme als gewöhnlich. »Ich warte auf den Abtransport von ihm hier.« Dabei drehte sie ihren Oberkörper zum leeren Schreibtischstuhl.

Jerry beugte sich zur Seite, um an der ›Kiste‹ vorbei auch einen Blick auf den spektakulären Anblick eines leeren Sitzmöbels werfen zu können. »Naja, wenigstens nich' ne Sauerei wie letzte Woche. Ich würd' sagen, 'ne kleine Klinge, vielleicht 'n Taschenmesser oder so.«

MimesisWhere stories live. Discover now