20. Antworten

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Mittwoch, 19:10 Uhr, Fährstraße 9, Osthafen, Hagangre

Das Automobil hielt in einer Industriestraße unweit der Kaimauer. Evelyn stieg aus und sah sich um: Die Gegend wirkte nicht besonders einladend. Der Fußweg bestand nur aus unbefestigtem Kies. Große Flutlichtscheinwerfer ersetzten die ausgefallenen Straßenlaternen und beleuchteten die Höfe der anliegenden Firmen. Zwischen den Holzlatten der Zäune sah sie vierbeinige Schatten patrouillieren, mit denen sie lieber nicht nähere Bekanntschaft machen wollte. Das Fahrzeug entfernte sich zu seinem nächsten Kunden und ließ Evelyn allein auf der menschenleeren Straße zurück. Ihr fröstelte es, und sie zog mechanisch den Kragen ihres roten Mantels hoch.

Ihr Handy vibrierte, es war Blix, doch sie lehnte den Anruf ab. Sie wollte nicht auf den Detektiv warten, sie musste Jerry finden, bevor ihn das Chamäleon an einen anderen Ort bringen konnte. Die Gedankenspur hatte sie an diese Adresse geführt; irgendwo in dieser gespenstischen Fabriklandschaft aus Schornsteinbäumen und Schrottbergen verbarg sich ein Hinweis auf den Aufenthaltsort ihres Bruders, da war sie sich sicher. Ihr fiel auf, dass aus den Milchglasfenstern einer riesigen Lagerhalle auf der gegenüberliegenden Straßenseite weißes Licht strahlte, obwohl es spät nach Feierabend war. Sie näherte sich vorsichtig der Einfahrt, gefasst auf ein Rudel beißender Wachhunde, doch es blieb ruhig. Sie stieß das unverschlossene, rostige Tor auf, an dem ein ebenso rostiges, schiefhängendes Schild mit der Aufschrift ›Schiebgrab & Söhne Logistik‹ befestigt war. Das Gelände schien schon längere Zeit nicht mehr benutzt worden zu sein, denn an zahlreichen Stellen durchbrachen Gräser den Asphalt.

Evelyn blieb vor dem großen Schiebetor der Lagerhalle stehen und zögerte einen Moment. Noch könnte sie Blix anrufen und ihn um Hilfe bitten. Doch dann hörte sie von drinnen, ganz leise, einen Hilferuf. Das konnte nur Jerry sein. Mit aller Kraft rollte sie einen der Torflügel zur Seite und zwängte sich durch die schmale Öffnung. Als sich ihre Augen an das grelle Licht gewöhnten, sah sie riesige Container in allen möglichen Farben vor sich, die sich teilweise bis an die Decke stapelten. »Hilfe!«, schrie Jerry wieder, und diesmal erkannte sie seine Stimme ganz deutlich. Freudig antwortete sie: »Ich komme!« und schlängelte sich durch das Containerlabyrinth, immer den Rufen ihres Bruders nach. Endlich erreichte sie eine Freifläche der Halle. Dort lag er! Im Pyjama und an den Händen und Füßen gefesselt, aber augenscheinlich unverletzt. Sie rannte auf ihn zu, doch Jerry befand sich in einer Art Gefängnis. In einem Kreis um ihn herum ragten Plastikstelen aus dem Fußboden und hinderten sie daran, ihn zu erreichen.

»Geht es dir gut?«, fragte Evelyn, doch Jerry rutschte von ihr weg, wie in Panik, bis er mit dem Rücken an eine der Stangen stieß. »Geh weg!« Sein Gehirn gaukelte ihm anscheinend immer noch vor, in der Forschungseinrichtung zu sein.

Evelyn sah sich nach etwas um, mit dem sie ihren Bruder aus seinem Gefängnis befreien konnte. Erst jetzt erkannte sie, dass der ganze Boden der Halle mit diesen Stäben geradezu tapeziert war, die meisten von ihnen eingefahren, andere aufrecht als Stütze für die gestapelten Container. Sie erinnerte sich an ihren letzten gemeinsamen Fall im Hafen, bei der ihre Klientin ihnen erzählt hatte, dass diese Böden dazu verwendet werden können, Objekte über eine Fläche zu bewegen und aufeinander zu stapeln. An der Wand fand Evelyn auch sogleich das Werkzeug, das sie dazu benötigte: Ein Datenhandschuh. Sie ignorierte die Tafel, die vor der Benutzung unter Anwesenheit von Personen warnte, richtete ihren rechten Arm auf Jerry, und krümmte langsam die Finger. Sofort versanken die Stäbe im Boden, und Jerry war frei.

Sie stürmte auf ihren Bruder zu, kniete sich vor ihn, und nahm ihn in die Arme. »Ich bin ja so froh, dass dir nichts passiert ist.«

Doch gerade, als sie seine Fesseln gelöst hatte, schossen plötzlich die Stelen wieder aus dem Boden empor und umschlossen sie nun beide. »Ich habe keine Ahnung, wie du mich finden konntest«, hörte Evelyn da eine Stimme hinter sich, die ihr sehr bekannt vorkam, als Erzählerin der Heimvideos, die sie früher gedreht hatte. Rasch wirbelte sie herum – und erschrak.

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