18. Für S

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Mittwoch, 18:04 Uhr, Penthouse, Carlsgatan 73, Hagangre

Was zunächst wie ein kurzer Schwächeanfall wirkte, schien Jerry stark mitgenommen zu haben. Er lag nun schon den dritten Tag mit hohem Fieber in seinem Bett. Wenn er schlief, wälzte er sich unruhig hin und her und sprach einige der Sätze von der Lichtung nach, und manches davon schien seine Fantasie hinzuzudichten. War er wach, ließ sich nicht viel aus ihm herausbringen; meist sah er fern oder zeichnete Städte aus schiefen Türmen. Evelyn wechselte regelmäßig seine kalten Umschläge, aber sie war ratlos, wie sein Zustand zu behandeln sei. Ihrer Mutter sagte sie, dass Jerry eine Grippe hätte. Glücklicherweise sank seine Temperatur seit heute Morgen kontinuierlich.

Es klingelte an der Tür. »Ich bin gleich zurück«, sagte Evelyn zu ihrem schlafenden Bruder, und zog die Decke wieder gerade, die unter seinem Zappeln zu Boden gerutscht war. Über die Videosprechanlage stellte sich der Besucher als David heraus. Den wollte sie jetzt am Wenigsten sehen.

»Bist du schwer von Begriff?«, fragte sie zornig. »Wenn ich dir nicht auf deine Nachrichten antworte, dann bedeutet das, dass ich nichts mehr mit dir zu tun haben will.«

»Das verstehe ich, aber ich wollte mich entschuldigen.« Er hielt eine große, mit einer Kordel verschnürte Pappschachtel in die Kamera.

»Geschenke ziehen bei mir nicht. Und außerdem, wenn du dich bei jemandem entschuldigen willst dann bei Jerry.«

»Darum ist das Geschenk ja auch für ihn.« Er setzte sein typisches Lächeln auf, für das sie früher dahingeschmolzen wäre.

»Er ist krank«, sagte sie zögernd. »Er will dich bestimmt nicht sehen.«

»Lässt du mich wenigstens rein, damit ich es ihm hinterlegen kann?«

»Na schön. Aber nicht länger als fünf Minuten.«

»Danke.«

Er trug wie immer Jeans und T-Shirt, doch etwas an ihm schien anders. Da fiel es ihr auf – der Schildknoten an seiner Brust, den er nach eigenem Bekunden nicht einmal unter der Dusche ablegte, war verschwunden. »Was hast du mit deinem Anhänger gemacht?«

»Hab' ich verloren«, sagte David beiläufig, und ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer, wo er das Paket auf den Beistelltisch ablegte. Dann drehte er sich zu ihr um. »Soll ich wirklich schon wieder gehen?«

»Ja, eigentlich schon«, gab Evelyn trotzig zurück, doch er schien es nicht gehört zu haben, oder hören zu wollen, denn David näherte sich ihr und legte einen Arm um ihre Schulter, während er sie stumm aus blauen Augen ansah. »Lass das«, murmelte sie und schob seine Hand weg.

»Was ist eigentlich in dem Paket?« lenkte sie ab. »Wenn es die Neuauflage von Glasbauwerke ist, kannst du es gleich wieder mitnehmen, die hat sich Jerry vorbestellt.«

»Mach es doch einfach mal auf«, flüsterte David verschwörerisch. Sie holte das Taschenmesser aus ihrem Zimmer, setzte sich auf das Sofa, und befreite den Karton von seiner Schnur. Im Inneren fand sie eine Reihe von unbeschrifteten Datenwürfeln vor, eine Sprühdose, sowie einen dicken Briefumschlag. War das nur ein weiterer dämlicher Scherz von David? »Was soll das denn sein?«

Sie wollte gerade die glänzenden Karten aus dem Umschlag nehmen, bei denen es sich allem Anschein nach um Fotografien handelte, als sie einen Stich in ihrem Nacken spürte. Sie fühlte, wie sie die Kontrolle über ihre Muskeln verlor, doch im Unterschied zum Nachspielen übernahm keine fremde Macht ihren Körper. Der Umschlag glitt ihr aus der Hand und verstreute den Inhalt auf den Boden. Wie ein umgestürzter Wackelpudding klappte sie auf den Kissen zusammen. Die Welt verschwamm vor ihren Augen. Die letzten Bilder, die sie sah, waren die Wohnzimmerdecke, die Glühbirne, und Davids Augen.

MimesisWhere stories live. Discover now