3. Die Flasche

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Montag, 17:24 Uhr, Penthouse, Carlsgatan 73, Hagangre

Sie hatten mit Blix vereinbart, gemeinsam am nächsten Morgen seinen Klienten zu besuchen. Über den Fall verlor er kein Wort, und so waren die Zwillinge, zur Untätigkeit verdammt, nach Hause zurückgekehrt. In der Küche des Penthouses in der Carlsgatan 73 breitete sich der würzige Wohlgeruch frisch gerösteten Knoblauchs aus. Jerry bereitete Steaks vom Schwefelbüffel zu, eines seiner Lieblingsgerichte, wobei er streng nach dem Rezept verfuhr, welches er auf seinem Pad aufgeschlagen hatte. Obgleich er alle Schritte in- und auswendig kannte, hakte er jeden Punkt minutiös mit einem Stift ab, und vergewisserte sich, exakt die angegebenen Mengen Zwiebeln, Soja, Salz und einheimischer Gewürze zu verwenden.

Ihre Mutter arbeitete zumeist bis spät in den Abend und gelegentlich auch an den Wochenenden. Solange die Geschwister zurückdenken konnten, kannten sie es gar nicht anders, als den überwiegenden Teil des Tages auf sich allein gestellt zu sein. So begann Jerry bereits früh, Verantwortung für den Drei-Personen-Haushalt zu übernehmen. Er erledigte die lästigen Aufgaben des Alltags freiwillig und ohne zu Murren. Einige der regelhaften oder monotonen Tätigkeiten wie Kochen oder Bügeln bereiteten ihm sogar Freude. Leider trat mit der Zeit ein Gewöhnungseffekt bei seiner Mutter und seiner Schwester ein, und bald wurden Worte des Lobes ein seltenes Gut. Evelyn nutzte gar den Umstand schamlos aus, Jerrys einzige wirkliche Bezugsperson zu sein. Darum musste Jerry über die ohnehin anfallenden Aufgaben hinaus ihr Zimmer aufräumen und sie als Packesel bei Shoppingtouren begleiten.

»Ich koche Abendessen«, rief er nach oben seiner Schwester zu. »Keinen Hunger«, hörte er Evelyn dumpf durch die geschlossene Tür ihres Zimmers antworten. Unbeirrt fuhr Jerry fort, vier große Fleischstücke in der Pfanne anzubraten; das Rezept sah nun einmal diese Anzahl Personen vor. An die naheliegende Anpassung der Mengen an die nunmehr zwei verbliebenen Speisenden dachte er nicht.

Evelyn lag in ihrem Zimmer mit dem Rücken auf dem Teppichfußboden und warf in unregelmäßigen Abständen einen Gummiball in Richtung Decke, was bei jedem Auftreffen ein lautes ›Plonk‹ erzeugte. Im Hintergrund wiederholte die künstliche Stimme ihres Schulapparates jene Lektionen des Fachs Geschichte, welche Evelyn nach Meinung des ausgeklügelten neuronalen Netzwerks am schlechtesten beherrschte - also alle. Gegenüber ihren Freunden und jedem anderen, der es nicht wissen wollte, bezeichnete sie sich als ›mittelmäßige Schülerin‹, ohne dass ihre Wangen auch nur einen Hauch von Rot zeigten. In Wahrheit wäre ›miserabel‹ noch eine Übertreibung ihrer schulischen Leistungen. Ihrer Meinung nach rührte diese Tatsache daher, dass sie mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz gesegnet war. Zwar ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Lehrmethode, die vor allem aus Auswendiglernen bestand, nicht gerade das eigenständige Denken forderte und förderte. Jedoch lag die Wurzel des Übels in Evelyns notorischer Faulheit begründet - was sie sich natürlich nie eingestanden hätte. Diese Lerneinheit beispielsweise schob sie schon seit Wochen auf. Da die Kinder in SQ keine gemeinsame Schule besuchten, sondern stattdessen von Computerprogrammen unterrichtet wurden, konnten sie sich Freizeit und Schulzeit nach Herzenslust selbst einteilen. Natürlich hatten auch die Eltern ein Wörtchen mitzureden. Evelyns Mutter vertraute allerdings auf die Selbstdisziplin ihrer Kinder, womit sie zumindest zu 50% richtig lag.

...Der Zusammenbruch des Hyperraums im Jahr H+0, auch ›Relativitätskatastrophe‹ genannt (nach den nun eintretenden neuen physikalischen Gesetzmäßigkeiten) führte zu einem Ende der Fortbewegung und Kommunikation mit Überlichtgeschwindigkeit im gesamten Universum. Somit waren die Expeditionsschiffe Scientia und Quaestio 300 parsec von ihrer Heimatwelt weit weg von jeglicher Hilfe abgeschnitten. Der Planet ›K-3720‹ des nahen Sonnensystems, uns heute unter dem Namen ›Levalaka‹ bekannt, wurde eine zunächst nur als Provisorium geplante Heimat für die 184 Besatzungsmitglieder...

›Plonk‹. Sie fragte sich, ob all die kleinen Details wie die Namen der Raumschiffe und die Stärke der Crew in der Prüfung drankämen. Ihre Gedanken schweiften ständig ab. Das Nachspielen vergangener Schicksale strapazierte ihren Geist weit über den Stress hinaus, den sie bei einer Prüfung empfand. Auch vier Jahre nach der Entdeckung ihrer Kräfte gelang es ihr nicht immer, die fremden Gefühle von ihren eigenen zu trennen. Heute war diese unsichtbare Grenze zusammengebrochen, und sie fühlte sich genau wie das Mordopfer aus der Vergangenheit, mit dem Unterschied, dass sie weiterlebte. Sie war quasi mitten im Gefühl ausgestiegen. Somit fehlte ein reinigender, kathartischer Effekt, so wie wir über uns selbst lachen, wenn uns etwas Harmloses erschreckt hat, oder weinen, wenn wir traurig sind. Noch immer erfüllte Furcht ihren ganzen Körper, es kribbelte die Gänsehaut, und jedes Töpfeklappern und Zischen unten aus der Küche ließ sie den Kopf zur Tür drehen, in der Erwartung, jederzeit könnte ein Messermörder hereinstürmen. ›Plonk‹.

...führte zum Abbruch des ›Millenniums-Projektes‹. Die Dauer der geplanten Rückreise, 40 Jahre, erschien der neuen Generation, die keinen nostalgischen Bezug zur Heimatwelt hatte, nicht mehr erstrebenswert. Auch zeigten neuere Berechnungen, dass während dieser Reise aufgrund der Relativitätseffekte für alle anderen außer den Reisenden mehrere tausend Jahre vergehen würden. Würde die Menschheit dann überhaupt noch existieren?...

›Plonk‹. Der Gummiball beruhigte sie nur bedingt. Für einen kurzen Moment beneidete sie ihren Bruder, der von den fremden Gefühlen nicht vereinnahmt wurde. Doch dann fiel ihr wieder ein, wie er sie heute beinahe aufgespießt hätte, und sie wischte den Gedanken weg. Nein, wirklich unter Kontrolle hatte er das Nachspielen auch nicht. ›Plonk‹.

...gelang mithilfe der Gentechnik SQs die Wiedererweckung der Ungeheuer Behemoth und Leviathan. Der erste Angriff zerstörte die ferthische Kleinstadt Tauweiler in ihrer Gänze und tötete dabei über 13.000 Wesen. In der Folge distanzierte sich SQ von seinem Verbündeten Mors und untersagte jede weitere gentechnische Forschung, ein Verbot, das bis zum heutigen Tag Bestand hat. Die Bestien wandten sich gegen ihre Meister, und weite Teile Mors' wurden Opfer ihres Feueratems...

Evelyn hörte schon seit dem Zeitpunkt nicht mehr zu, als der Apparat begonnen hatte, über die Stabkriege in Form einer endlosen Aufzählung von Schlachten zu referieren. Die Panik wollte einfach nicht weichen. Unruhig wälzte sie sich hin und her. Da fiel ihr Blick auf eine große Truhe, die in der dritten Etage ihres Wandregals stand, eingerahmt von einer Unterwasserlaterne mit zerbrochener Scheibe und einem staubigem Glas voller Muscheln. Zögerlich richtete sie sich auf, hievte die schwere Truhe auf den Boden, und öffnete sie. Ein Roboter thronte darin auf einem Berg ihres alten Spielzeugs und sah sie mit einem Auge traurig an; an Stelle des anderen klaffte ein schwarzes Loch. Sie nahm ein Stoffeinhorn heraus, dessen einst kräftige blonde Mähne zu einem fast weißen Beigeton verblasst war. Dann schraubte sie das Horn ab, welches ein Versteck preisgab, von dem außer ihr keine Menschenseele wusste. In dessen Innerem befand sich ein kleines Röhrchen mit einer klaren Flüssigkeit, die nur sehr zäh innen am Glas entlang floss, als Evelyn das Reagenzglas gegen das Licht hielt.

Eigentlich wollte sie es nicht tun. Sie hatte es sich felsenfest geschworen. Einmal noch, hatte sie das letzte Mal geflüstert und dabei ihrem Spiegelbild zustimmend in die Augen gesehen, einmal noch und dann höre ich auf. Sie starrte einen Moment hypnotisiert auf die Hand, mit der sie das Glas hielt, doch ihr Wille obsiegte. Ich werde es vernichten, dachte sie, und schlich sich auf Zehenspitzen, damit Jerry nichts mitbekam, ins Bad. Dann hob sie den Klodeckel und nahm den Gummistopfen aus dem Fläschchen, bereit, den Inhalt den Abfluss hinunterzuspülen. Sofort zog ihr ein vertrauter beißender Geruch nach Asche und Honig in die Nase, welchem die Chemikalie den Spitznamen ›Astronautenhonig‹ verdankte. Unbeirrt hielt sie das Röhrchen schräg, und das Gel kroch im Schneckentempo in Richtung Toilettenschüssel.

Doch der Gedanke, beinahe schwach geworden zu sein, trug nicht gerade zur Verbesserung ihrer Stimmung bei. Die Angst in ihr suchte sich ein neues Ziel. Sie konzentrierte sich nicht länger auf Schattenmänner, sondern darauf, was geschehen wäre, wenn ihre Mutter sie erwischt hätte. Evelyn bekam weiche Knie, es schnürte ihr den Hals zu, alles drehte sich... Ehe sie sich versah, hatte sie den Inhalt der Flasche in ihren Rachen geleert. Reste der Flüssigkeit klebten an ihrem Gaumen und hinterließen einen bitteren, leicht erdigen Geschmack. Evelyn stahl sich zurück in ihr Zimmer. Zutiefst von sich selbst enttäuscht setzte sie sich aufs Bett, die Beine angewinkelt, und harrte der Wirkung der Droge.



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