5. Regen und Kakao

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Montag, 18:34 Uhr, Penthouse, Carlsgatan 73, Hagangre

Wärme durchströmte gleichmäßig Evelyns Körper und gab ihr ein Gefühl wohliger Geborgenheit. Die Diener der Furcht waren gebannt. Statt Kälte, Anspannung und Nervosität empfand sie nun reines Glück. Gab es denn auch etwas Schöneres als diese Welt? Draußen dunkelte es bereits, doch die Wände, der Schreibtisch und das Regal in ihrem Zimmer waren in ein goldenes Licht getaucht. Einem plötzlichen Impuls folgend sprang sie von der Bettkante auf und drehte sich so wild im Kreis, dass sich ihr Rock wie der Schirm einer Qualle weitete und zusammenzog.

Rasch jedoch erregte das Fenster Evelyns Aufmerksamkeit. Es hatte begonnen zu regnen, und ihr kam es vor, als ob die Natur ein sich beständig veränderndes Gemälde schuf. Tropfen rannen wie im Wettstreit die Scheibe entlang. Wenn sie sich begegneten, bildeten sie winzige Adern, wie Flüsse für Mikroben. Die besonders eifrigen der kleinen Kerlchen sausten, einen Schweif nach sich ziehend, blitzschnell hinunter. Auch auf der beleuchteten Wasseroberfläche des Pools der Dachterrasse tanzten die Tropfen Ballett. Evelyn beobachtete eine Weile entzückt das Schauspiel, bei dem sich keine Szene wiederholte. Dann verspürte sie den drängenden Wunsch, einen Spaziergang im Regen zu machen. Hätte sie gewöhnlich über das ›Sauwetter‹ geschimpft, wollte sie nun nichts lieber als das Wasser auf ihrer Haut spüren und den Duft frischen Regens auf Asphalt einatmen.

Sie flog förmlich die Stufen hinab und vergaß beinahe, sich die Schuhe zuzubinden.

»Ich geh' eine Runde raus«, rief sie durch die offene Esszimmertür ihrem Bruder zu. Jerry wunderte sich sehr, dass seine Schwester über beide Ohren grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Mama hat gerade angerufen, sie sagt es wird heute spät.«

»Ah ja«, sagte Evelyn, die nur mit halbem Ohr zugehört hatte. In der Diele griff sie nach einem Regenschirm, dann fiel die Tür ins Schloss, und Jerry war allein.

Als sie endlich im Erdgeschoss angekommen war und auf die nasse Straße trat, verstärkten sich die Eindrücke noch einmal. Nie war ihr die Stadt so lebendig vorgekommen wie heute. Die Menschen drängten sich geschäftig durch die Stadt. Sie sah Paare unter den Dachplanen der Einkaufszeile Schutz vor dem Regen suchen. Obwohl sie keine einzige Person davon kannte, freute sie sich mit über das Glück der Zweisamkeit. Als sie den Bürgersteig entlang ging, begegnete sie einer dreiköpfigen Straßenband in farbenfroher Tracht, die sich nicht um das Wetter scherte und eine flotte Polka zum Besten gab. Als sie geendet hatte, warf Evelyn ihnen einen Geldschein in den Akkordeonkoffer. Die Musiker spielten zum Dank eine kleine Zugabe und verbeugten sich tief. Sie kam an kleinen Stehcafés und Bistros vorbei, an welchen sich jetzt, zur Abendzeit, die Leute sammelten und mit heißen Getränken aufwärmten. Das vielstimmige Gemurmel der Menschen mischte sich mit dem prasselnden Regen zu einem Klangteppich, der Evelyn auf ihrem Weg durch die Stadt begleitete.

Sie hatte kein bestimmtes Ziel. Unbewusst steuerte sie jedoch auf das Zentrum ihres Viertels zu, einem großen, begrünten Platz. Hier trafen und verzweigten sich verschiedene Wege wie Autobahnkreuze auf mehreren Ebenen, mit dem Unterschied, dass sie nur für Fußgänger und Radfahrer freigegeben waren. In der Mitte des Platzes formten drei der Wege, die parallel übereinander liefen, ein U. Von dieser Galerie aus konnten die Zuschauer im Sommer kostenlosen Freiluftkonzerten beiwohnen. Heute allerdings hatte sich dort, wo normalerweise die Bühne stand, eine kleine Gruppe versammelt. Die Menschen schienen aufgebracht und skandierten Sprechchöre.

Als Evelyn neugierig näher kam, konnte sie erkennen, dass es sich um eine Demonstration handelte. Sie sah etwa fünfzig Personen jeden Alters zusammenstehen. Einige von ihnen streckten Pappschilder in die Luft, doch waren sie vom Regen durchtränkt und die Aufschrift unlesbar. Eine ältere Dame gab von einer Stufe aus holprig gereimte Parolen vor, welche die Menge ohne zu zögern nachbrüllte.

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